Arno

volksHERRschaftlich

In Uncategorized on 28.November 2019 at 21:34

Im Dickicht Zwei

„Das ist undemokratisch“, heißt es oft. Selten ist damit „gegen die Herrschaft des Volkes“ oder „nicht nach dem Willen des Volkes“ gemeint, sondern „irgendwie schlecht“. Ja meingott, warum sagt man dann nicht „falsch“, „nicht richtig“ oder „nicht freiheitlich“?

Selten hört man ein Loblied auf die Herrschaft des Volkes – weder auf die des Staats­volkes (Demo­kratie) noch gar auf die des Blutvolkes (Ethno­kratie) – ; meist geht es um Rechts­staat, um Menschen­­rechte, um Freiheiten und Gleichheiten, manchmal auch um Brüderlichkeit, Solidarität, Anteilnahme, Achtsam­keit, Offenheit für Andere.

Dass es nicht um die Herrschaft des Volkes geht, wird an der Tatsache sinnfällig, dass die Mehrheit der Deutschen, der Franzosen (und vieler anderer) gegen die Abschaffung der Todesstrafe war, als die demo­kratischen Parlamente diese abschafften. Übrigens galt im Vereinigten Königreich vor dem Brexit nicht die Volkssouveränität, sondern die des Parlaments: dessen Mitglieder hatten auf ihren Verstand und ihr Gewissen zu hören und nicht auf das Volk bzw. die Völker.

Vor ein paar Jahren stoppte ein Verfassungsgericht eine Volksabstimmung über „Die Ehe für alle“, weil man die Mehr­heit nicht über Rechte für Minderheiten abstimmen lassen könne ← Menschenrechte gelten unabhängig von der Meinung der Mehrheit! Sorben, Klein­wüchsige, Tunten, Frauen zu benachteiligen ist nicht „undemokratisch“, sondern ungerecht und falsch. Dann belegt es bitte auch nicht mit diesem Wort!

Es war auch falsch, Schlesier und Sudetendeutsche aus ihrer Heimat zu vertreiben, und den Lothringern und Elsässern den Gebrauch ihrer Mundarten und der deutschen Sprache zu verbieten. Verständlich war es, dass manche „den Deutschen“ heimzahlten, was „die Deutschen“ Menschen angetan hatten. Doch während die Enteignung von Groß­grund­­besitzern und Nazis gerecht war, war die Vertreibung DER Deutschen (auch von Nazigegnern und Wider­­ständlern) ungerecht –, wenn auch zu rechtfertigen in der kon­kre­ten Lage. Ich verlange keine Wiedergut­machung für Schlesier und Lothringer. Aber ich wider­spreche Franzosen und Tschechen, die so tun, als sei der Franzose und der Tscheche dem Deutschen moralisch überlegen.

Es ist auch nicht so, dass Deutsche Japanern überlegen sind, weil sie alles aufgearbeitet hätten.

Von Israel heißt es, es sei die einzige Demokratie des Nahen Ostens, von Indien, es sei die größte Demo­kratie der Welt. Ich habe da meine Zweifel. Wieso ist der Libanon keine Demokratie? – Aber gibt es in Israel und in Indien keine freien Wahlen? Doch es gibt sie (nach dem Verhältniswahlrecht in Israel, in Indien nach dem Mehrheits­wahlrecht). Und doch sind beide keine lupenreinen Demokratien.

Widerspreche ich mir da nicht: Erst verlange ich „demokratisch“ nicht mit freiheitlich, rechtsstaatlich usw. aufzuladen, sondern es für das zu nehmen, was es ist: die Herrschaft von 51% und jetzt sage ich, Indien und Israel seien undemokratisch, weil in beiden Ländern Muslime systematisch benachteiligt werden, weil es der Mehrheit so gefällt.

Schauen wir uns das genauer an. Von Anfang an waren in beiden Staaten Araber (inkl. christlicher und drusischer) bzw. Muslime (ob in Bengalen oder Uttar Pradesh, in Haider­­abad oder Srinagar) benachteiligt, aber die Kongress­­partei und die Arbeiterpartei (Mapai, Ma’arach, Avoda) beschworen die grundsätzliche Gleichberechtigung (auch wenn sie sich in der Praxis nicht daran hielten, weil …).

Heute schließen Netanjahu und Modi (oder wenigstens ihre Bundes­genossen) die Mus­lime aus dem Demos, dem Staats­volk, aus. In Israel ist es verboten, die Gleich­behand­lung aller Staats­bürger zu fordern, Arabisch, das seit Gründung des Staates Auch-Staats­sprache war und die Mutter­sprache von Tausenden Soldaten, Grenz­schützern, Polizisten und anderen Beamten ist, wurde herabgestuft.

Die Regierungspartei Indiens predigt Hindutva: Inder könne nur sein, wer indische Eltern hat und Indien als HEILIGe Mutter betrachte. Wer einer fremden Religion (Islam, Christentum, Judentum, Zoro­astrismus) anhängt, sei kein Inder, gehöre nicht zum Staats­­volk. Es gibt „gemäßigte“ Anhänger, die Christen, für die ihre Kirche ein Tempel ist und Jesus ein Avatar Krischnas oder Muslime, für die ihre Moschee ein indischer Tempel ist und Allah eine Verkörpe­rung Brahmas und keine Verbindungen nach Mekka oder Rom unter­halten, als Inder zu akzep­tieren bereit sind, aber solche „Deutschen Christen“ gibt es kaum.

Wenn Parlament und Regierung große Teile (einheimischer) Einwohner delegitimieren, sie zu Fremden erklärt (selbst wenn sie ihnen nicht das Wahlrecht entziehen), sind diese Staaten keine Demo­kratien, was immer in der FAZ stehen mag. Ja, es gibt in Israel Presse­freiheit und unabhängige Gerichte, aber es handelt sich in meinen Augen nicht mehr um eine Demo­kratie, sondern um eine Ethnokratie.

Aber auch in den USA galten Katholiken (Iren, Italiener, Süddeutsche, Mexikaner), Juden, Ureinwohner und Farbige als „unamerikanisch“; war das denn auch keine Demokratie? Nein, es war die Herrschaft weißer, protestantischer Männer (Angel­sachsen, Skandinaviern, Nord­deutschen, Nieder­ländern). Dass das besser war als die Herrschaft von Königen von Gottes Gnaden, bestreite ich nicht; dass das vielleicht sogar „für die Zeit“ demokratisch war, auch nicht, aber nach heutigen Maß­stäben handelt sich nicht um eine Demo­kratie.

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