Im Dickicht Zwei
„Das ist undemokratisch“, heißt es oft. Selten ist damit „gegen die Herrschaft des Volkes“ oder „nicht nach dem Willen des Volkes“ gemeint, sondern „irgendwie schlecht“. Ja meingott, warum sagt man dann nicht „falsch“, „nicht richtig“ oder „nicht freiheitlich“?
Selten hört man ein Loblied auf die Herrschaft des Volkes – weder auf die des Staatsvolkes (Demokratie) noch gar auf die des Blutvolkes (Ethnokratie) – ; meist geht es um Rechtsstaat, um Menschenrechte, um Freiheiten und Gleichheiten, manchmal auch um Brüderlichkeit, Solidarität, Anteilnahme, Achtsamkeit, Offenheit für Andere.
Dass es nicht um die Herrschaft des Volkes geht, wird an der Tatsache sinnfällig, dass die Mehrheit der Deutschen, der Franzosen (und vieler anderer) gegen die Abschaffung der Todesstrafe war, als die demokratischen Parlamente diese abschafften. Übrigens galt im Vereinigten Königreich vor dem Brexit nicht die Volkssouveränität, sondern die des Parlaments: dessen Mitglieder hatten auf ihren Verstand und ihr Gewissen zu hören und nicht auf das Volk bzw. die Völker.
Vor ein paar Jahren stoppte ein Verfassungsgericht eine Volksabstimmung über „Die Ehe für alle“, weil man die Mehrheit nicht über Rechte für Minderheiten abstimmen lassen könne ← Menschenrechte gelten unabhängig von der Meinung der Mehrheit! Sorben, Kleinwüchsige, Tunten, Frauen zu benachteiligen ist nicht „undemokratisch“, sondern ungerecht und falsch. Dann belegt es bitte auch nicht mit diesem Wort!
Es war auch falsch, Schlesier und Sudetendeutsche aus ihrer Heimat zu vertreiben, und den Lothringern und Elsässern den Gebrauch ihrer Mundarten und der deutschen Sprache zu verbieten. Verständlich war es, dass manche „den Deutschen“ heimzahlten, was „die Deutschen“ Menschen angetan hatten. Doch während die Enteignung von Großgrundbesitzern und Nazis gerecht war, war die Vertreibung DER Deutschen (auch von Nazigegnern und Widerständlern) ungerecht –, wenn auch zu rechtfertigen in der konkreten Lage. Ich verlange keine Wiedergutmachung für Schlesier und Lothringer. Aber ich widerspreche Franzosen und Tschechen, die so tun, als sei der Franzose und der Tscheche dem Deutschen moralisch überlegen.
Es ist auch nicht so, dass Deutsche Japanern überlegen sind, weil sie alles aufgearbeitet hätten.
Von Israel heißt es, es sei die einzige Demokratie des Nahen Ostens, von Indien, es sei die größte Demokratie der Welt. Ich habe da meine Zweifel. Wieso ist der Libanon keine Demokratie? – Aber gibt es in Israel und in Indien keine freien Wahlen? Doch es gibt sie (nach dem Verhältniswahlrecht in Israel, in Indien nach dem Mehrheitswahlrecht). Und doch sind beide keine lupenreinen Demokratien.
Widerspreche ich mir da nicht: Erst verlange ich „demokratisch“ nicht mit freiheitlich, rechtsstaatlich usw. aufzuladen, sondern es für das zu nehmen, was es ist: die Herrschaft von 51% und jetzt sage ich, Indien und Israel seien undemokratisch, weil in beiden Ländern Muslime systematisch benachteiligt werden, weil es der Mehrheit so gefällt.
Schauen wir uns das genauer an. Von Anfang an waren in beiden Staaten Araber (inkl. christlicher und drusischer) bzw. Muslime (ob in Bengalen oder Uttar Pradesh, in Haiderabad oder Srinagar) benachteiligt, aber die Kongresspartei und die Arbeiterpartei (Mapai, Ma’arach, Avoda) beschworen die grundsätzliche Gleichberechtigung (auch wenn sie sich in der Praxis nicht daran hielten, weil …).
Heute schließen Netanjahu und Modi (oder wenigstens ihre Bundesgenossen) die Muslime aus dem Demos, dem Staatsvolk, aus. In Israel ist es verboten, die Gleichbehandlung aller Staatsbürger zu fordern, Arabisch, das seit Gründung des Staates Auch-Staatssprache war und die Muttersprache von Tausenden Soldaten, Grenzschützern, Polizisten und anderen Beamten ist, wurde herabgestuft.
Die Regierungspartei Indiens predigt Hindutva: Inder könne nur sein, wer indische Eltern hat und Indien als HEILIGe Mutter betrachte. Wer einer fremden Religion (Islam, Christentum, Judentum, Zoroastrismus) anhängt, sei kein Inder, gehöre nicht zum Staatsvolk. Es gibt „gemäßigte“ Anhänger, die Christen, für die ihre Kirche ein Tempel ist und Jesus ein Avatar Krischnas oder Muslime, für die ihre Moschee ein indischer Tempel ist und Allah eine Verkörperung Brahmas und keine Verbindungen nach Mekka oder Rom unterhalten, als Inder zu akzeptieren bereit sind, aber solche „Deutschen Christen“ gibt es kaum.
Wenn Parlament und Regierung große Teile (einheimischer) Einwohner delegitimieren, sie zu Fremden erklärt (selbst wenn sie ihnen nicht das Wahlrecht entziehen), sind diese Staaten keine Demokratien, was immer in der FAZ stehen mag. Ja, es gibt in Israel Pressefreiheit und unabhängige Gerichte, aber es handelt sich in meinen Augen nicht mehr um eine Demokratie, sondern um eine Ethnokratie.
Aber auch in den USA galten Katholiken (Iren, Italiener, Süddeutsche, Mexikaner), Juden, Ureinwohner und Farbige als „unamerikanisch“; war das denn auch keine Demokratie? Nein, es war die Herrschaft weißer, protestantischer Männer (Angelsachsen, Skandinaviern, Norddeutschen, Niederländern). Dass das besser war als die Herrschaft von Königen von Gottes Gnaden, bestreite ich nicht; dass das vielleicht sogar „für die Zeit“ demokratisch war, auch nicht, aber nach heutigen Maßstäben handelt sich nicht um eine Demokratie.