PLICHTENLEHRE ODER PRAKTIZIERTES RECHT
In den islamischen Reichen war die šarī ʿa nicht bloß Pflichtenlehre, aber auch nicht das allein angewandte Recht: sie war „the law of the land“, teils unmittelbar wirksam, teils die gesamte politisch-gesellschaftliche Ordnung legitimierend. Chafik Chehata unterschätzt ihren Geltungsbereich, wenn er sie als „Privatrecht“ (Familien-, Ehe- und Erbrecht sowie Vermögens- und Transaktionsrecht) bezeichnet. Johansen stellt fest: „Das Strafrecht wird schon früh den qāḍīs weitgehend entzogen und den konkurrierenden Gerichtsbarkeiten des ṣāḥib al-maẓālim, des muḥtasib, des ṣāḥib aš-šurṭa und des ḥāǧib unterstellt.[189] Unter den Osmanen kommt es praktisch zu einem weltlichen Strafrecht, das in eigenen Sammlungen schriftlich vorlag, und das anzuwenden die Richter verpflichtet waren.[190] … Es ist also richtig, festzuhalten, daß das Strafrecht der šarīʿa meistens kein praktiziertes Recht war, obwohl es immer wieder – bis in die Gegenwart – Tendenzen gegeben hat, es gegen abweichende Rechtsformen durchzusetzen …“[191] Dies unterschätzt zwar die praktische Bedeutung der šarīʿa im osmanischen Reich, dessen qawānīn das šarīʿa-Strafrecht weitgehend intakt ließen und das die Position des qāḍī stärkte – ihn gleichzeitig in ein staatliches Justizwesen einbindend –, ist jedoch zumindest für den Gegenstand dieser Arbeit richtig.
Kresmárik nennt den ḥudūd-Teil der šarīʿa „Selbstjustiz“,[192] was Johansen so übersetzt: „das Recht der ḥudūd [ist] so beschaffen, daß es nur die Bestrafung desjenigen erlaub[t], der die Strafe auf sich nehmen will.“ Dies gilt ganz besonders für liwāṭ, da es – auch nach Auffassung vieler Juristen [193] – das klassische Verbrechen ohne Opfer ist. Während Diebstahl und Straßenraub Eigentum und Leben verletzen und zinā zu Unklarheiten bei der Abstammung führen kann und die Ehre der Ursprungsfamilie der Frau und/oder die Rechte ihres Ehemanns an seiner Frau verletzt, wird bei liwāṭ weder ein Hymen verletzt, noch besteht die Gefahr einer Schwangerschaft. Weniger die Tat als ihr Ruchbar-Werden schadet.
Im Gegensatz zum modernen bürgerlichen Recht, dessen Würde auf allgemeiner, gleicher Anwendung beruht, verlangt das ḥudūd- Recht nicht die Aufspürung und überführung aller Täter: es beruht nicht auf extensiver Anwendung (damit ‚crime doesn’t pay‘ auch geglaubt wird), sondern auf exemplarischer (die Drohung erneuernder) Exekution. Denn „Gott ist erhaben darüber, daß ihm ein Mangel anhaften könnte, so daß er in seinem Rechtsanspruch des Ausgleichs bedürfte.“[194]
Die Unerbittlichkeit der Strafe, wenn einmal alle Beweishürden überwunden sind, die Unmöglichkeit der Begnadigung oder Verringerung der Strafe aufgrund ‚mildernder Umstände‘ weist auf den sakralen Charakter der šarīʿa. „Denn in der Ausübung der Gewalt über Leben und Tod bekräftigt … das Recht sich selbst.“[195]
Die šarīʿa weist für sariqa und muḥāraba[196] fünf – für zinā (und liwāṭ) sechs – Vorkehrungen auf, die Zahl der Verurteilungen gering zu halten:
1. šubha = juristische Vorbehalte, prozeßrechtliche Bestimmungen, die den Beweis meist unmöglich machen.[197]
2. Die Zeugen müssen männliche, unbescholtene, freie, sehende muslimische Augenzeugen der Tat selbst sein; die beiden Täter allein in einem Raum zu wissen und ‚eindeutige‘ Geräusche zu hören reicht nicht. (Juden, Christen, Blinde und Frauen sind – anders als Schwachsinnige, Minderjährige und übel Beleumundete – nicht in allen Prozessen von der Zeugenschaft ausgeschlossen.) Und wenn vier erwachsene Muslime die Tat so genau und deutlich gesehen haben, wie es das Prozeßrecht vorschreibt, sind sie eigentlich immer in der Lage, die Tat zu verhindern, wozu sie verpflichtet sind (ḥisba).
3. Die Zeugen müssen selbst vor dem Richter in ein und der selben Verhandlung aussagen. Die schriftlich bestätigte Aussage vor einem anderen Richter wird – anders als in Zivilrechtsfragen – nicht anerkannt.
4. Die Zeugen müssen unmittelbar nach der Tat diese anzeigen. Tun sie dies nicht, müssen sie schweigen.[198]
5. qaḏf = Bestrafung unbewiesener Anschuldigung – nicht etwa erwiesen falscher Anschuldigung – von zinā (und liwāṭ). Es handelt sich um eine ḥadd–Strafe beruhend auf XXIV 4 „Diejenigen, die ehrbare Frauen in Verruf bringen und daraufhin keine vier Zeugen beibringen, verabreicht ihnen 80 Hiebe und nehmet nie (mehr) eine Zeugenaussage von ihnen an! Sie sind Frevler.“ (Paret) Vgl. auch XXIV 23–25.[199]
6. Dem Beschuldigten darf kein Schwur zur Beteuerung seiner Unschuld auferlegt werden.
Neben den prozeduralen Schutzvorschriften gibt es moralische:
1. satr (Verhüllen): „Wer (die Sünden) seines Nächsten in dieser Welt bedeckt, dessen Sünden wird Gott am Jüngsten Tag bedecken.“ Dieser ḥadīṯ findet sich in Muslims Saḥīḥ,[200] und Abū Zakarīyāʾ Yaḥyā an-Nawawī (gest. 676/1277) hat es in seine viel gelesene Sammlung Riyāḍ aṣ-Sāliḥīn aufgenommen.[201]
Ein anderer von Muslim, Buḫārī und Nawawī gebrachter ḥadīṯ lautet: „Allen meinen Leuten wird vergeben, außer denen, die Sünden aufdecken, auch ihre eigenen, die sie nachts begangen haben und die Gott zugedeckt hat. … Des Nachts bedeckte Gott es, und er zerreißt am Morgen Gottes Decke!“[202]
Ähnlich Mālik: Muwaṭṭaʾ: „Wer etwas von diesen schmutzigen Dingen begeht, der soll sich mit Gottes Decke bedecken!“[203] Nach Mālik auch bei Buḫārī, Buch 41, ḥadīṯ 12,[204] und ausführlicher als 2. Spruch des 41. Buches: „Mālik berichtete mir von Yaḥyā b. Saʿīd nach Saʿīd b. al-Musaiyab, daß ein Mann vom Stamme der Aslam zu Abū Bakr kam und sagte: „Ich habe gehurt.“ Abū Bakr sagte ihm: „Hast du dies schon jemand anderem gesagtö“ Er sagte: „Nein“. Abu Bakr sagte ihm: „Dann … verberge es mit dem Schleier Gottes. Gott nimmt die Reue seiner Sklaven an.“[205] Noch nicht beruhigt ging der Sünder zu ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb, der ihm die gleiche Auskunft gab. Schließlich ging er zum Propheten, der ihn dreimal wegschickte. Mālik berichtet weiter, daß der Prophet einem der Stammesgenossen des Mannes sagte: „Ihr hättet besser daran getan, ihn mit einem Mantel zu bedecken.“[206]
2. das Verbot zu spionieren und
3. das Verbot übler Nachrede:
XLIX 12 Und spioniert nicht und sprecht nicht hintenherum schlecht voneinander!
XXIV 19 Diejenigen, die wünschen, daß etwas Abscheuliches über die Gläubigen allgemein bekannt wird, haben eine schmerzhafte Strafe zu erwarten – im Diesseits wie im Jenseits. (nach Paret)
Nawawī bringt folgenden ḥadīṯ nach Muslim:
Hütet euch vor Verdächtigungen; sie sind Falschheit. Sucht nicht nach den Fehlern der andern und spioniert nicht untereinander und beneidet euch nicht … Ein Muslim dem ütigt keinen Muslim, noch verachtet er ihn. Einem Muslim ist alles unantastbar, was eines Muslims ist: sein Blut, seine Ehre, sein Eigentum … [207]
Wer also anklagt, läuft nicht nur Gefahr wegen Verleumdung bestraft zu werden, setzt sich nicht bloß dem Verdacht aus, zugeschaut zu haben, statt es zu verhindern, er handelt auch unmoralisch.
Schließlich soll der qāḍī nicht alles daran setzen, das Vergehen aufzudecken, er soll sogar Geständige auf mögliche Täuschung hinweisen. Ist er von einer Tat überzeugt, soll er nicht versuchen, den Beweis zu erbringen, sondern den Täter ermahnen – bei angesehenen Leuten kann das so behutsam erfolgen, daß er sie weder zu sich kommen läßt, noch sie durch einen Besuch kompromittiert, sondern ihnen diskret eine Botschaft übermitteln läßt.[208] Daß kein Übeltäter der diesseitigen Strafe entkommt, ist also nicht die Sorge der fuqahāʾ.
Die Gültigkeit der šarīʿa und virtuelle Vollziehbarkeit der Strafen reicht vollauf; diese legitimatorische, quasi-religiöse Funktion des Rechts kann durch zweierlei gestört werden:
a. durch offenes, unverschämtes übertreten des Verbots, durch ungestraftes Nicht-Leugnen eines (allgemein bekannten) Tuns, weil dies die Strafdrohung untergräbt,
b. durch Infrage-Stellen des Verboten-Seins des Verbotenen und des Geboten-Seins des Gebotenen.
Wer gegen die Verbote verstößt, dies aber bestreitet, bekräftigt hingegen durch sein Leugnen die Gültigkeit des Verbots; solch deviantes Verhalten wird toleriert.
Wer sich non-konformistisch verhält, sich also um ein Gebot oder Verbot der Gesellschaft einfach nicht kümmert, sich darüber hinwegsetzt, es sozusagen „für sich außer Kraft setzt“, ohne seine allgemeine Gültigkeit anzugreifen, wird meist in Frieden gelassen. Wer jedoch gegen das Gesetz rebelliert, seine Gültigkeit bestreitet, muß zur Raison gebracht werden. Denn „der ist ein Ungläubiger, der etwas erlaubt, was in der Religion des Propheten verboten ist, wie die Verwandten zu heiraten, die man nicht heiraten soll, oder das Weintrinken oder das Essen von … Schweinefleisch außer in Notfällen. Diese Dinge zu
begehen, ohne sie zu erlauben, ist Sünde (fisq). (Jedoch sie) zu erlauben ist Unglauben (kufr)“,[209] worauf die Todesstrafe steht. Grundlage hierfür IX 29: „Bekämpft diejenigen, die nicht an Gott und den Jüngsten Tag glauben, und nicht für verboten erklären, was Gott und sein Gesandter für verboten erklärt haben.“
Rechtspraxis
Da das islamische Recht mit devianten Übeltätern ‚leben kann‘, blieben sie meist am Leben. Dies kann man nicht nur an der Spärlichkeit der Berichte über Hinrichtungen von lūṭīs und *Geluteten ablesen, sondern auch am langen Leben von als lūṭīs bekannten Dichtern wie Abū Nuwās und Herrschern wie Amīn (Bagdad), Ibrāhīm (Tunis) oder ʿAbdalmalik (Cordoba). Eine Stelle bei Ibn Ḫallikān halte ich für aufschlußreich, weil sie erkennen läßt, daß die Juristen solche Menschen am Leben ließen: Es heißt dort über Abū ʿUbaida Maʿmar b. al-Muṯannā, daß kein ḥākim ihn als Zeugen zuließ, weil er der Knabenliebe (mail ila l-ġilmān) verdächtigt wurde.[210] Die in den Sexualhandbüchern vorkommenden lūṭīyūn und *Geluteten scheinen sich wenig Sorgen um mögliche Bestrafung gemacht zu haben.
Aufschlußreich ist auch eine Bestimmung im šīʿitischen Eherecht, nach der „der Männliche, welcher mit einem Männlichen Geschlechtsverkehr hatte, weder dessen Mutter, noch dessen Schwester oder Tochter heiraten kann“.[211] Ganz ähnlich bei Ibn Ḥambal: lau lāṭa bi-ġulāmin, ḥurrimat ʿalaihi ummuhū wa-bintuhū. [212]
Im Licht solcher Bestimmungen kann sich eine Stelle des Ḥanafiten Ibn ʿĀbidīn auch auf Verkehr mit Männlichen beziehen: „über die liwāṭa gibt es noch andere Regelungen: Bei ihr ist der mahr nicht nötig, noch die ʿidda, wie beim ungültigen nikāḥ oder beim Koitus mit šubha. Noch macht sie die Frau für den ersten Ehemann ḥalāl. Noch wird durch sie die Wiederverheiratung mit der geschiedenen Frau vollzogen. Noch gilt das Heiratsverbot durch Verschwägerung – zumindest nach der Meinung der meisten! …“[213]
Sogar die moral-strenge ḥisba-Literatur bietet Belege für die Tendenz, nicht in Schlafzimmern, Stundenhotels etc. zu spionieren. Ibn ʿAbdūn schreibt Anfang des 12. Jahrhunderts westl. Kalenders: „Die Lustknaben (al-ḥiwā, sg. al-ḥāwī) sollen aus der Stadt vertrieben werden. Diejenigen, die man danach noch antrifft, werden bestraft. Man darf sie sich nicht unter Muslimen bewegen lassen, noch an Festen/Hochzeiten teilnehmen lassen, da sie Unzucht (zinā) treiben und von Gott und den Menschen verflucht sind.“[214] Die Forderung dieser Moralisten war Verbannung; in der Realität werden Lustknaben auf Hochzeiten getanzt haben.
ZUSAMMENFASSUNG
Der Qurʾān verbietet liwāṭ, setzt aber keine Strafe fest.
Die fuqahāʾ stellen ihn unter Strafe, machen aber den Vollzug der Strafe vom Geständnis abhängig.
Die Gesellschaft duldet ihn, solange es diskret geschieht.
Das islāmische Recht weist nicht nur zur Praxis, sondern auch zu den Normen der islāmischen Gesellschaft große Differenzen auf: Während das Recht liwāṭ an einem Männlichen kategorisch unter Strafe stellt, haftet dem ‚Aktiven‘ gesellschaftlich kein Makel an. Aus Rücksicht auf den *Geluteten und/oder auf das islāmische Recht wird jedoch Diskretion erwartet.
Im Vergleich zum alten Griechenland, in dessen Oberschicht Päderastie Institution war,[215] wird deutlich, daß sich die Gesellschaft durch das nominelle Verbot der Möglichkeit begibt, formend zu wirken: Wo ein Verhalten ins Halbdunkel gedrängt wird, wo Sex zwischen Männlichen nicht Teil eines Verhaltensensembles mit Geselligkeit, Unterweisung, kulturellen und sportlichen Veranstaltungen ist, wo die Familie eines jugendlichen Partners davon nichts erfahren darf, ist die Gefahr der Reduktion auf das Sexuelle größer.
Wie kam es zu diesem Auseinanderklaffen von gesellschaftlicher Praxis und šarīʿa: Warum stellten die fuqahāʾ liwāṭ unter Strafe, obwohl sie das nach dem Heiligen Buch nicht zu tun brauchten?
Es könnte daran liegen, daß die fuqahāʾ alles andere als einen Querschnitt der muslimischen Bevölkerung bildeten. Die fuqahāʾ und ahl al-ḥadīṯ (Mālik b. Anas und Aḥmad b. Hambal gehören zu beiden) heben sich nicht nur von der Masse der kleinen Leute und Bauern ab, sie können auch von den im Weltlichen Tonangebenden unterschieden werden: soziologisch (dem Stande nach), psychologisch (nach Temperament und Neigung) und ethnologisch (der Herkunft nach):
1. Die fuqahāʾ haben meist ein bürgerliches Umfeld, sie oder ihre Verwandten sind wie S. D. Goitein[216] und H. J. Cohen[217] gezeigt haben Händler und Handwerker – das Leben der Bürokraten (kuttāb ), der Literaten und Hofdichter und des Militärs ist ihnen relativ fremd.
2. Die fuqahāʾ interessieren sich anders als Übersetzer und Mediziner, Philosophen und Gnostiker, und auch manche Theologen und Mystiker wenig für die hellenistisch-städtische Kultur.
3. Die fuqahāʾ und ahl al-ḥadīṯ sind arabischer[218] als die Literaten, Philologen und Sekretäre (kuttāb); man findet sie eher in Medina, Kūfa oder Baṣra als in Damaskus oder Bagdad.
Übrigens gibt dieser Ansatz eine mögliche Erklärung für die relativ milde Haltung der frühen Ḥanafiten zu liwāṭ. Die Medinenser lebten nicht nur in größerer geographischer Distanz zum (lockeren, weintrinkenden) Hof, sie standen in einer gewissen Opposition zu ihm; das Verhältnis von Abū Yūsuf, immerhin – anders als Abū Ḥanīfa und aš-Šaibānī – ein „richtiger Araber“, zur weltlichen Elite war ein ganz anderes.[219]
Nachdem das in privaten Zirkeln „gemachte“ Recht, als göttlichen Ursprungs anerkannt war, das zwar fortentwickelt wurde, aber als unabänderlich galt, und der Staat zum Wächter dieses Rechts erklärt worden war, mußten die lūṭīyūn sich anpassen. Während in Systemen menschlich gesetzten Rechts ein solches Auseinanderklaffen von Rechtsempfinden und Gesetzestext langfristig beseitigt werden muß, hat die muslimische Gesellschaft sich mit ihrem als unwandelbar gedachten göttlichen Recht zu arrangieren gewußt – durch Verstellung und Verhüllung seitens der Täter, sowie die Bereitschaft des Rechts, solch sündiges Tun nicht zu enthüllen.
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