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liwāṭ im fiqh 03 – Qurʾān

In Homosexualität, Islam, Männer, Muslime, Recht, Soziologie on 11.Januar 2010 at 18:04

Das Wort liwāṭ kommt im Qurʾān nicht vor, noch wird ʿamal qaum Lūṭ in ihm definiert oder dafür eine Strafe fest­gelegt – wie dies etwa für zinā (XXIV 2–9), für sariqa (V 30) und für muḥāraba (V 33) der Fall ist. Und doch wird der Terminus liwāṭ, dessen Ver­bot, teilweise sogar die Ahndungs­art, auf den Qurʾān zurück­geführt.

Sure IV, Vers 16.[4x]
Die ersten Abschnitte der 4. Sure (Die Frauen) ent­­halten viele (Rechts-)­Vor­schrif­ten, über die Erb­teile, die Treu­händer­schaft von Waisen­­vermögen, über Ehe­­hinde­­rungs­­gründe, richtiges ehe­liches Ver­halten, über die Morgen­gabe, Trunken­heit, über rituelle Rein­heit beim Gebet, sowie (in den Versen 15,16) über das Begehen von Abscheu­lichem:

15 Und wenn welche von euren Frauen etwas Abscheuliches begehen, so ver­langt, daß vier von euch (Männern) gegen sie zeugen! Wenn sie (tat­sächlich) zeugen, dann haltet sie im Haus fest, bis der Tod sie abberuft oder Gott ihnen eine Möglichkeit schafft.
16 Und wenn zwei von euch (Männern) es begehen, dann züchtigt (?) sie (w.: tut ihnen Ungemach an) [fa-ʾāḏūhumā]! Wenn sie (darauf­­hin) um­kehren und sich bessern, dann wendet euch von ihnen ab (und setzt ihnen nicht weiter zu)! Gott ist gnädig und barm­herzig. (Übers. Paret)

Daß mit den „zwei“ (allaḏāni) ‚zwei Männer‘ gemeint sind, ist um­stritten. Roberts schreibt: „… betreffs der Erklä­rung von Sūra [IV 16] stimmen die Kommen­­ta­toren nicht überein. Zamaḫ­šarī und Baiḍāwī behaupten z.B. daß es sich hier um Unzucht zwischen zwei Personen verschie­denen Geschlechts handle, wogegen der Kommentar der Ǧalā­lain Sodomi­te­rei annimmt. Letzteres scheint mir richtiger zu sein, weil a) nur Pronomina mas­cu­lina vor­liegen, b) sich die Gering­­fügig­keit der Strafe so am besten erklärt, und c) die Bestrafung der Frauen nach dem unmittel­­bar vor­her­­gehen­den Vers anders und zwar viel strenger ist.“.[42] Ergänzend sei ver­merkt, daß sowohl Zamaḫ­šarī (gest. 538/1144) als Baiḍāwī (gest. 675/1276) die Auffassung, daß der Vers sich auf liwāṭ beziehe, wenigstens erwähnen – im Gegen­satz etwa zu Ṭabarī (gest. 310/923). Ibn Kaṯīr (gest. 774/1373) gibt die Unklar­heit des Verses unum­­wunden zu und zieht zur Klä­rung einen ḥadīṯ heran. Die Ǧalālain (Ende des 16. Jahrh. westl. Kalenders) gehen einen Schritt weiter: sie erklären den Vers für auf jeden Fall mansūḫ, beziehe er sich nun auf liwāṭ, was plausibler sei, oder auf zinā. Von den zwei neuzeit ­­­lichen ägyp­tischen Kommen ­tatoren, deren Werke ich eingesehen habe, bezieht Muḥammad Maḥmūd al-Hiǧāzī.[43] ihn auf zinā (er erwähnt die andere Auf­fassung) und Saiyid Quṭb (1906–1966 hin­gerichtet) auf liwāṭ,.[44] stellt aber fest, daß die strafrechtliche Behandlung von liwāṭ nicht auf diesem Vers fußt.

Die Lūṭ-Geschichte

Die Lūṭ-Geschichte wird im Qurʾān nicht seltener als 15 mal erwähnt (VII 80–84; IX70; XI 77–81; XV 58–77; XXI 74,75; XXII 43; XXVI 160–175; XXVII 54–59; XXIX 28–35; XXXVII 133–136; XXXVIII 13; L 13; LI 32-37; LIII 53; LIV 33–40). Doch darf aus der Wieder­­holung nicht geschlos­sen werden, daß liwāṭ dem Ver­künder des Qurʾān, beson­ders wichtig gewesen wäre: Erstens sind Wieder­holungen im Qurʾān ganz gewöhn­lich. Zweitens steht für Muḥam­mad nicht das spezifische, konkrete (Un-)Tun der Leute im Vor­der­grund, sondern ihr Nicht-auf-ihren-Pro­phe­ten-Hören. Die Ṣāliḥ-Ṯamūd-Geschichte kommt sogar 19 mal vor (VII 73–79; IX 70; XI 61–68; XIV 9; XV 80–84; XVII 59; XXII 42; XXV 38; XXVI 141FF; XXVII 45–53; XXIX 38; XXXVIII 13; XLI 13,17; L 12; LI 43-45; LIII 51; LIV 23–31; LXIX 4). Die Hūd-ʿĀd-Geschichte wird 16 mal erwähnt (VII 65–72; IX 70; XI 50–60; XIV 9; XXII 42; XXV 38; XXVI 123–140; XXIX 38; XXXVIII 12; XLI 13–15; XLVI 21; L 13; LI 41; LIII 50; LIV 18; LXIX 4,6; XCI 11-15), die Šuʿaib-Midiani­ter-Geschichte immerhin 9 mal (VII 85–93; IX 70; XI 84–95; XV 78; XXII 44; XXVI 176–184; XXIX 36,37; XXXVIII 13; L 13,14). Auch Nūḥ (ganze Sure LXXI; XI 25; XXVI 107; XLII 13 et passim), Mūsā (und Hārūn), sogar Ibrāhīm (bes. VII 83; IX 70; XXIX 16; XLIII 26) sind nicht nur Über­­bringer einer Offen­ba­rung, sondern auch Warner (naḏīr), derer Bot­schaft jedoch auf taube Ohren stößt – bei Moses (und seinem Bruder) an Pharao und sein Volk, bei Abraham an seinen Vater und sein Volk. Inter­es­san­ter­weise werden bei allen alt­­testamen­­tari­­schen Gestal­ten die Adres­sa­ten als qaum XY be­zeichnet, z.B. XXII 42f. – „vor [den Mek­ka­nern] haben die Leute Noahs, die ʿĀd und die Ṯamūd (ihre Gesandten) der Lüge geziehen, des­gleichen die Leute Abrahams, die Leute Lots“,[45] für Moses VII 7 und II 54. Das Wesent­liche liegt nicht in der Art des Ver­gehens, sondern im Dar­an­fes­thalten, im Miß­achten der Warnung, im Über­hören des Pro­pheten. Dies wird dreimal explizit gesagt:[46]

XXXIV 34 Nie schickten wir einen Warner in eine Stadt, ohne daß diejenigen Bewohner, die ein Wohl­leben führten gesagt hätten: ‚Wir glauben nicht an die Botschaft …‘
XXVIII 58 Und wie viele Städte, die sich ihres (üppigen) Lebens­wandels rühmten, haben wir (zur Strafe für den Un­glauben) zugrunde gehen lassen!
XXII 45 Und wie viele Städte gibt es, die wir in ihrer Frevel­haftig­keit haben zugrunde gehen lassen, so daß sie (nun) in Trümmern liegen. (nach Paret).[47]

Der Unglaube der Sodomer (wie der Mek­kaner) geht so weit, daß sie Be­weise ver­langen:

XXIX 29 „Bring‘ uns die Strafe Gottes (die du uns androhtest) her, wenn (wirklich) du die Wahr­heit sagst!“ (Paret).[48]

All diese Verse stammen aus der mekkanischen Periode;[49] in ihnen droht Muḥammad den Ungläubigen, kündigt ihnen Strafe für den Fall des Behar­rens in ihrem Unglauben an, tröstet und ermutigt gleich­­zeitig die Gläubi­gen: schließ­lich ging es den Pro­pheten vor Muḥammad auch nicht besser; so wird sein zeit­weili­ger Miß­erfolg bei den Mek­kanern aus einem Hinweis auf mangelnde gött­liche Unter­stützung zu einem Beleg der Echt­heit seines gott­ge­gebenen Auftrages. Und drittens kommt das Straf­gericht über Lūṭs Volks­­genossen, weil sie Frevler sind (kānū ẓālimīna XXIX 31) und weil sie ge­sündigt haben (kānū yafsu­qūna XXIX 34). Ihr Frevel und ihre Sünde ist aber nicht nur ‚Sodomie im engeren Sinne‘ , sondern:
– sich mit Männern abgeben (statt mit Frauen);
– Wegelagerei treiben;
– in den Rats­versamm­lungen Verwerf­liches (al-munkar) begehen (XXIX 29).[50]
Ähnlich polyvalent ein hadīṯ im Maǧmūʿ al-fiqh (vor 122/740, vgl. S. 98):

Zaid berichtete mir nach seinem Vater [ʿAlī], nach seinem Groß­vater [Ḥusain], nach ʿAlī; er sagte: „Ich hörte den Propheten sagen: ‚Zehnerlei ist das Tun des Volkes von Lūṭ; deshalb paßt bei ihnen auf (hütet euch davor): das Herab­­wachsen­­lassen des Schnurr­bartes, das Frisieren der Haare, das Kauen von Kau­gummi, das Auf­knöpfen der Knöpfe, das Herab­hängen­­lassen des Schals, das Fliegenlassen von Tauben, das Werfen von Hasel­nüssen, das Pfeifen, gemeinsames Trinken und gemeinsames Spielen.‘ [51]

Bei aller Warnung vor der Über­bewertung der sexuellen und juristi­schen Dimen­­sionen, bei allem Nach­druck auf der Bedeutung des Ver­hält­nis­ses Gott – Gesandter – Ungläu­­bige folgt aus diesen Versen auch ein Verbot sexu­el­len Verkehrs unter Männ­­lichen. Der Qurʾān ruft die Menschen jedoch nicht auf, diese Sünder zu bestrafen; vielmehr behält sich Gott die Strafe selbst vor. Besonders XI 82f. läßt sich so ver­stehen: Gott führt nicht nur den Unter­gang der sündi­gen Gemeinde (minus der wenigen Gerech­ten, die er – wie einst Noah in der Arche – rettet) herbei; er kümmert sich um den Tod jedes Ein­zelnen mit ge­zeich­ne­ten Steinen (ḥiǧāratan … musau­wamatan), denen nie­mand entkommen kann. Dieses Motiv wird in der von Muḥam­mad b. Ḫāwand Šāh (Mīrḫwānd) über­liefer­ten Anek­­dote deut­lich: „Ein glühen­der Stein traf den Kopf von Lūṭs Frau, die die Zer­stö­rung ihrer Heimat­stadt schaute; es traf sie die allgemeine Strafe. Die Bürger, die zu diesem Zeitpunkt außer­halb waren, traf das gleiche Schicksal: Alle Sünder kamen in die Hölle. Einer von ihnen war gerade im Heilig­tum von Mekka; der Stein, der ihn töten sollte, blieb in der Luft über ihm, solange er dort war, und traf ihn, als er es verließ.[52] Also: Sex unter Männ­lichen ist ab­scheu­lich und ver­werf­lich, man soll da­gegen vor­gehen und die Sünder zur Umkehr aufrufen. Hilft dies nicht, soll man sie strafen. Harte Strafen – im Dies- wie im Jenseits – sind Gott vorbehalten. Die Verse haben mehr den Charak­ter einer frommen Ermah­nung und eines morali­schen Verbots, als den eines Gesetzes.

Charles Pellat schließt den Qurʾān-Absatz seines EI-Artikels liwā[53]> wie folgt: „Die Strafe, die das Volk Lots im Qurʾān wie in der Bibel (Gen., XIX, 1–23) trifft, läßt keinen Zweifel an der Art, mit der der Islam die Sodomie ansehen muß, auch wenn sie nicht aus­drück­lich durch das Heilige Buch ver­urteilt wird, das übrigens eine gewisse Zwei­deutig­keit zuläßt, wenn es die Gläubigen mit Ver­sprechungen ködert, daß sie im Paradiese von Ephe­ben bedient würden (ġilmān LII, 24; wildān LVI, 17, LXXV, 19).“

LIWĀT IM ḤADĪṮ

Pellat fährt fort: „Die Aussagen des ḥadīṯ sind dagegen völlig klar und besonders streng, wie an-Nuwairī bemerkt, der sie gefälliger­weise in seiner Nihāya (II 204–10) gesammelt hat und die Ansichten der Gefährten und der fuqahāʾ über diese Frage hinzufügt ...[54]
Nach Ansicht (des Propheten) sollen der Aktive und der Passive getötet werden (yuq­talu/ uqtu­lū l-fāʿil wa-l-mafʿūl bihī,[55] Termini, die später in der Grammatik für Subjekt und für Objekt benutzt werden sollten) oder – prä­ziser: der Strafe unter­worfen werden, die für den des zinā Schuldigen, den Hurer, vorgesehen ist, also gesteinigt werden[56] … Diese ḥadīṯe zeigen durch ihre bloße Existenz, daß die Homo­­sexualität in der vor­islamischen Periode in Arabien nicht völlig unbekannt war, wahr­schein­lich ohne in der Beduinen­­­gesell­schaft häufig zu sein.[57]

Anders als Pellat, der die aḥādīṯ als zu Lebzeiten des Pro­pheten – oder ganz kurz danach – ent­standen ansieht (sonst könnte er aus ihrem Inhalt keine Schlüsse auf Zustände in der Ǧāhilīya ziehen und sonst könnte er nicht sagen, fāʿil und mafʿūl bihī seien später­hin Grammatik­termini geworden), sehe ich es eher wie J. A. Bellamy:
„… ḥadīṯ und aḫbār, die man kurz ‚Anek­­do­ten‘ nennen kann, wurden von den frühen Mus­limen eifrig erfunden, gesammelt und weiter­­gegeben. … Diese Anek­doten wurden von einer Gruppe in Umlauf gesetzt, die gemein­hin als ahl al-ḥadīṯ oder aṣḥāb al-ḥadīṯ bezeichnet werden. Die Geschichte dieser Bewegung ist in groben Umrissen bekannt, aber die Einzel­­heiten sind dunkel, weil es meist unmög­lich ist, eine bestimm­te Anek­dote zu da­tieren [bzw. weil die Einzel­­heiten dunkel sind, ist es meist unmöglich A.S.]. Sie be­gann in Medina im ersten Jahr­ ­hundert und die fuqahāʾ leisteten erst Wider­stand. Sie wurde langsam stärker und erlebte eine richtige Blüte im zweiten/ achten Jahr­hun­dert.[58]

Trotz der bedeutenden neuen Erkennt­nisse zur mündlich-schrift­­lichem Weiter­­gabe von Wissen in der Früh­zeit des Islam (S. Leder, G. Schoeler u.a.) und der detaillier­ten Kritik Motzkis an Gold­ziher, Schacht und Juynboll halte ich alle dem Propheten zu­ge­­schrie­benen Sprüche über Sodomiter für fromme Fälschung. Motzki ist beizu­­pflichten, wenn er vermutet, daß in den ersten 150 Jahre wenig Propheten­­sprüche gefälscht wurden. Solange die Juristen ihre Responsa nicht mit Propheten­­sprüchen stützen muß­ten – und ʿAṭāʾ b. Abī Rabāḥ (gest. 115) beruft sich nur in 1% der Responsa auf Mu­ḥam­­mad und das auch noch ohne isnād (zumindest in Motzkis sample) – gab es wenig Veran­­las­sung zu Fälschungen. In den nächsten hundert Jahren wurde umso fleißiger gefälscht; wie sonst hätte Buḫārī 600000 Sprüche finden können (von denen er nur 1 % für sicher ansah), wie sonst hätte sich die Anzahl der Propheten­sprüche, die von Ibn ʿAbbās berichtet werden, von 9 oder 10, von denen Yaḥyā b. Saʿīd al-Qaṭṭān [gest. 198] Wind bekommen hatte, auf 1660 zur Zeit Ibn Ḥazms [gest. 456/1064][59] ver­mehren können?

Aufgrund der klassischen asbāb an-nuzūl-Literatur und einer Stelle aus Motzkis Grund­quelle, ʿAbdal­raz­zāqs Muṣannaf, gehe ich davon aus, daß der Prophet für alle wichtigen Fragen, in denen er von der Praxis der Ǧāhilīya abweichen wollte, eine Offen­barung bekam. Vor dem Hinter­grund der Ab­­schaf­fung der Adoption, der qaḏf-Offen­­ba­rung und anderen Fällen oppor­­tuner Ein­­flüste­rungen des Pro­pheten, sowie dem Spruch ʿAṭāʾs, den sein Schüler Ibn Ǧuraiǧ nach II 233 fragte (Motzki übersetzt die Antwort: „… Es wird berichtet (yurwā), daß [der Vers] unter den Menschen [geoffenbart worden] ist, als sie über die Still­zeit uneinig waren.[60]), ist es sehr wahr­schein­lich, daß alle Anord­nungen, die auf einigen Wider­stand stießen oder hätten stoßen können, weil sie von der sunna des Ḥiǧāz abwichen, durch Offen­barung und nicht durch einfache Muḥammad’sche Anweisung geregelt wurden.

Aufgrund der Forschungen Motzkis gehe ich davon aus, daß nicht mehr als 600 aḥādiṯ richtig sind; falsch dürften insbesondere solche sein,

– die auffällige Parallelen in jüdischen, christ­lichen oder persischen Sprüchen, Maximen oder Regeln haben,
– an deren Existenz bestimmte Gruppen aus der Zeit, in der sie zuerst einwandfrei zu belegen sind, Interesse hatten,
– die Sachverhalte regeln, bei denen es Uneinig­keit zwischen den ṣaḥāba gibt. Denn hätte der Prophet die Sache wirklich geregelt, dürfte es keine Uneinig­keit geben (dies sieht auch Ibn Ḥazm[61] so);
– ferner solche, für die frühe Überlieferer­­ketten vor dem Propheten endeten, später aber bis zu ihm führen (dies sieht auch Juynboll[62] so).[63]

Inhalt der aḥādīṯ

Im ersten großen auf uns gekommenen Werk voller aḥādīṯ,[64] dem Muwaṭṭaʾ[65] des Medinensers Mālik b. Anas (gest. 179/795), finden wir:

Mālik berichtet mir [Yaḥyā], daß er [Muḥammad b. Muslim] Ibn Šihāb [az-Zuhrī] über denjenigen fragte, der das Tun der Sodomiter tut (allaḏī yaʿmalu ʿamal qaum Lūṭ). Ibn Šihāb sagte: Er ist zu steinigen (ʿalaihi ar-raǧm), sei er zur Wahrung der Keuschheit verpflichtet [66] oder nicht (aḥṣana au lam yuḥṣin).

Da hier von raǧm die Rede ist, kann angenommen werden, daß diese Bestimmung in Anlehnung an den ‚Steinigungsvers‘ entstand, welcher seinerseits in Anlehnung an Deutero­nomium XXII 22 ent­standen sein dürfte.[67] Im Qurʾān ist ja von raǧm nur im Zusammen­hang mit dem ‚Steinigen‘ von Pro­pheten durch Ungläubige die Rede. Paret übersetzt alle sechs Stellen (XI 91; XVIII 20; XIX 46; XXVI 116; XXXVI 18; XLIV 20) mit „steinigen, d.h. mit Stein­würfen verjagen“. Man beachte auch Lukas IV 29: sie „standen auf und stießen ihn zur Stadt hinaus und führten ihn an den Rand des Berges, darauf ihre Stadt gebaut war, daß sie ihn hinab­stürzten.“ In der Bedeutung ‚zu Tode steinigen‘ ist raǧm nach-qurʾānisch.

Auch die knappe Präzisie­rung aḥṣan setzt schon entwickel­ten fiqh voraus, in dem „muḥṣan“ – wörtlich ‚geschützt, gestärkt‘ und in frommer Rede auch ‚tugend­­haft, standhaft‘ – terminus tech­nicus für den geworden war, der schon die Freuden legalen Geschlechts­­verkehr mit einer Gattin (oder Sklavin) genossen hat ( Zusatz : – bei Šīʿiten: und zur Zeit genießen kann).

In den nächsten zwei (erhaltenen, gefundenen, edierten) Spruch­samm­lungen, dem an mekkanischem Material reichen Muṣannaf des Jemeniten Abū Bakr ʿAbdarrazzāq b. Hammām b. Nāfiʿ al-Ḥimyarī aṣ-Sanʿānī (gest. 211/827) und dem Muṣannaf des Kufiers Abū Bakr ʿAbdallāh b. Muḥammad b. Abī Šaiba (gest. 235/849), finden wir zwar 26 Sprüche, die meisten stammen von Propheten­genossen, viele von Nach­folgern; nur ein Propheten­­wort hat rechtlichen Charakter: uqtulū l-fāʿil wa-l-mafʿūl bihī, yaʿnī allaḏi yaʿmal ʿamal qaum Lūṭ – übrigens geht der Spruch weiter: und wer das Vieh beschläft (atā), tötet ihn und tötet das Vieh!

In den beiden ṣaḥīḥ-Sammlungen – der von Buḫārī (gest. 256/870) und der von Muslim (gest. 261/875) – gibt es zu liwāṭ nichts.

Aḥmad b. Ḥam­bal (gest. 241/855/6), der Begründer der nach ihm benannten auf aḥādīṯ angewiesen Rechts­schule, hat im Musnad einiges zusam­men­­getragen:
– Verfluchungen (I 217, I 309; I 317 in 3 Varianten)
– die kleine lūṭīya (II 182, II 210 – also 2 Varianten) (s. S. 54)
– „ich fürchte für meine Gemeinde wegen …“ (III 382)
– Nicht-unter-einer-Decke-Schlafen in 7 Varianten (II 497; III 348, 356, 398, 395; IV 134, 135)
– und mit der größten juristischen Bedeutung: fa-qtulū -fāʿil wa-l-mafʿūl bihī = tötet (exekutiert) den Aktiven und den Passiven. In den sunan von Ibn Māǧa (gest. 273/886), Abū Dāud (gest. 275/888) und at-Tirmiḏī (gest. 279/892) finden sich ein paar Sprüche, was weniger auf ihre Wohl­über­liefert­­heit hin­deutet, als darauf, daß sie von fuqahāʾ gebraucht wurden.[68]

Neben dem „Ich fürchte um meine Gemeinde“-Spruch (Ibn Māǧa 2606; Tirmiḏī 24.4) und einem „Verflucht sei“-Spruch (Tirmiḏī 24.2), so wie einem ebenfalls nicht rechtlichen ḥadīṯ („Gott schaut nicht auf …“ Tirmiḏī 1176), finden wir: den ḥadīṯ, nach dem der fāʿil und der mafʿūl bihī hin­gerichtet werden sollen (Ibn Māǧa 2604, Tirmiḏī 24.1, Abū Dāūd, sowie in einer Variante Tirmiḏī 24.3), den auch Ibn Ḥam­bal bringt – und zwar mit fünf gleichen Gliedern,[69] was nach Juynboll für die Fälschung durch das fünfte Glied spricht; ferner ein ḥadīṯ, nach dem der aʿlā und der asfal gesteinigt werden sollen (Ibn Māǧa 2605) sowie ein ḥadīṯ, nach dem der bikr (das ist der ġair muḥṣan) gesteinigt werden soll (Abū Dāūd).

In der von Pellat erwähnten Auflistung von Nuwairī – und dessen Vorlage: Ibn al-Ǧauzīs Ḏamm al-hawā[70] – finden wir 41 ‚Anekdoten‘ : neben den „Verflucht sei“- und „Ich-fürchte“-, sowie dem „Gott-schaut-nicht“- und den Tötungs- und Steinigungs-aḥādīṯ, aḫbār über Rechts­sprüche der ṣaḥaba, die Meinungen der Gründer der sunniti­schen Rechts­schulen, sowie zwei Aussprüche über die lūṭīs am Jüngsten Tage:

… nach ʿAbdallāh b. ʿAmr: Die lūṭīs werden am Tag des Jüngsten Gerichts in Form von Affen und Schweinen erscheinen.

nach Ibn ʿAbbās: Wer aus der Welt in einem [bestimmten] Zustande geht, kommt aus seinem Grab in jenem Zustande heraus, wenn [also] der lūṭī am Tag des Jüngsten Gerichts heraus ­kommt, haftet sein Penis am Hintern seines Gefährten und beide stehen bloßgestellt an der Spitze der Geschöpfe.

NACHTRAG
leider habe ich die schi’itischen Hadith-Sammlungen ignoriert. Es gibt vier wichtige (https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Shia_books#Hadith_collections)
Neben viel Juristischem, das nicht stark im Material der Sunniten abweicht, gibt es eine aufschlussreiche Anekdote in al-Kāfī, K. an-Nikāḥ 186. Darin macht sich Iblīs schön, um die Sodomer zur Sodomie zu verleiten.

– عَلِيُّ بْنُ إِبْرَاهِيمَ عَنْ أَبِيهِ عَنْ أَحْمَدَ بْنِ مُحَمَّدِ بْنِ أَبِي نَصْرٍ عَنْ أَبَانِ بْنِ عُثْمَانَ عَنْ أَبِي بَصِيرٍ عَنْ أَحَدِهِمَا (عَلَيْهِما السَّلام) فِي قَوْمِ لُوطٍ (a.s) إِنَّكُمْ لَتَأْتُونَ الْفاحِشَةَ ما سَبَقَكُمْ بِها مِنْ أَحَدٍ مِنَ الْعالَمِينَ فَقَالَ إِنَّ إِبْلِيسَ أَتَاهُمْ فِي صُورَةٍ حَسَنَةٍ فِيهِ تَأْنِيثٌ عَلَيْهِ ثِيَابٌ حَسَنَةٌ فَجَاءَ إِلَى شَبَابٍ مِنْهُمْ فَأَمَرَهُمْ أَنْ يَقَعُوا بِهِ فَلَوْ طَلَبَ إِلَيْهِمْ أَنْ يَقَعَ بِهِمْ لأبَوْا عَلَيْهِ وَلَكِنْ طَلَبَ إِلَيْهِمْ أَنْ يَقَعُوا بِهِ فَلَمَّا وَقَعُوا بِهِ الْتَذُّوهُ ثُمَّ ذَهَبَ عَنْهُمْ وَتَرَكَهُمْ فَأَحَالَ بَعْضَهُمْ عَلَى بَعْضٍ.

4. Ali ibn Ibrahim has narrated from his father from Ahmad ibn Muhammad from ibn abu Nasr from Aban bin ‘Uthman from abu Basir who has said the following: “One of the two Imam, (abu Ja’far or abu ‘Abd Allah), ‘Alayhim al-Salam, has said, ‘In the case of the people of Lot mentioned in the Quran: “You engage in such indecent acts in which no one of the people of the world before had ever engaged,”’ He (the Imam) said, ‘Iblis (Satan) came to them in the form of a good looking person with femininity, with good looking clothes and he came to their young ones and asked them to have sex in his anus. Had he asked them to allow him have sex in their anus they would refuse but he did the opposite and when they did as he wanted them to do they enjoyed it. He went away and left them to engage in such indecent act with each other.’” https://thaqalayn.net/hadith/5/3/186/4

[42] Robert Roberts: Das Familien-, Sklaven- und Erbrecht im Qorān, Leipzig, 1908 (Leipziger Semitische Studien II.6), S. 29
[43] at-Tafsīr al-wādih, al-Qāhira: Maṭbaʿat al-Istiqlāl al-kubrā, 61969.
[44] Fī zilāl al-Qurʾān , al-Qāhira: ʿĪsā al-Bābī al-Ḥalabī, o.J. [1960], IV S. 94.
[45] Sehr ähnlich in IX 70.

[46] Vgl. Josef Horovitz: Koranische Unter­suchun­gen, Berlin: de Gruyter, 1926 (Stu­dien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients IV), S. 15, 21–27.

[47] Parallele in VII 4: Wie manche Stadt haben wir (zur Strafe für den Unglauben ihrer Bewohner) zugrunde gehen lassen. (Paret)

[48] Parallele in VII 77: „Bring uns was du androhst, wenn du (wirklich von Gott) gesandt bist!“

[49] Ich halte mich in diesen Dingen an den ʿuṯmāni­schen Qurʾān der Muslime. Wann er „eigen­tlich“ Gestalt annahm und ob er aramŠaischer zu lesen ist, interessieren hier nicht.

[50] Auch bei Ṭabarī: Taʾrīḫ ar-rusul wa-l-mulūk, kitāb I, bāb LII; Hg. de Goeje, Leiden: Brill, I.1 (1879), S. 328f.

[51] Zaid b. ʿAlī b. Ḥusain, Hg. Eugenio Griffini: Corpus Iuris, Milano: Ulrico Hoepli, 1919, Nr 1006.

[52] Raudāt aṣ-ṣafāʾ, o.O., 1845, I S. 51,5–7; Übers. E. Lamairesse, Paris: Carré, 1894, S. 46.

[53] Liwāṭ in Encyclopédie de l’islām V, Paris: Brill, 1983, S. 782; in Englisch, Leiden: Brill, 1983, V S. 776.

[54] An-Nuwairī hat hier nichts zusammengestellt, er hat lediglich von Ibn al-Ǧauzī abgeschrieben. Lois Anita Giffen stellt in ihrer Theory of Profane Love among the Arabs (New York: New York University Press, 1971, S. 146f.) fest: „In (der) Enzyklopae­die (Nihāyat al-arab fī funūn al-adab) von Abu l-ʿAbbās Ahmad ibn ʿAbdalwahhāb an-Nuwairī (gest. 732/1332) ist der Groß­teil des 3. Kapitels des 1. Teiles des 2. Fann der Liebes­theorie gewidmet. Das ganze Material ist aus Ibn al-Ǧauzīs Ḏamm al-hawā abge­schrieben. Mehrmals zitiert er Ibn al-Ǧauzī und sein Buch in einer Weise, daß man denken sollte, daß nur gerade dieser Abschnitt … übernommen wurde, wo doch in Wirklichkeit alles andere auch von Ibn al-Ǧauzī stammt. Meistens läßt Nuwairī den isnād weg … Doch mit der Ausnahme von einigen Zeilen, wenn ein neuer Gegenstand beginnt, kopiert er Wort für Wort.“ – Bei unserem Gegenstand läßt er einige Juristenmeinungen fort, bringt ‚dafür‘ aber eine Bemerkung über die Namen der untergegangen Städte und einen hadīṯ nach Abu l-Faraǧ: „Wer Knaben lüstern küßt, den bestraft Gott mit tausendjährigem Feuer …“.
[55] Ich habe mir erlaubt, die EI-Umschrift anzupassen.
[56] ‚Ḥadd az-zinā‘ und ‚raǧm‘ sind nicht äqui­valent, wie Pellat glaubt: für den ġair muḥṣan bedeutet ‚hadd az-zinā‘ Auspeit­schung und Ver­bannung.

[57] Liwāṭ in Encyclopédie de l’islām, V S. 782; in der englischen Über­setzung, V S. 776.

[58] Bellamy, a.a.O., S. 25f.

[59] Asmāʾ aṣ-ṣahāba ar-ruwāh, in Ǧawāmiʿ as-sīra, Hg. Ihsān ʿAbbās, al-Qāhira: Makta­bat al-Qurʾān, o.J. [ca. 1988], S. 276. Ein frommer Erklärungs­versuch: die 9 oder 10 hat er direkt vom Propheten, die anderen von Zeugen oder Zeugesspanzeugen gehört.

[60] ʿAbdar­razzāq, VII, Nr 12173; Harald Motzki, Die Anfänge der islami­schen Juris­prudenz, Stuttgart: Steiner, 1991, S. 103; Übers. M. H. Katz, The Origins of Islamic Jurisprudence: Meccan fiqh before the Classical Schools, Leiden: Brill, 2002, S. 113.

[61] al-Muhallā, vgl. S. 96.

[62] Juynboll: “The Development of Sunna as a Term” in Jerusalem Studies in Arabic and Islam X, 1987, S. 100: “The simple fact that reports with isnāds ending in ʿAṭāʾ have survived next to the same reports supported by isnāds ending in older authorities, makes it more than likely that ʿAṭāʾ has to be considered as the originator of the precepts contained in these reports.”

[63] Diese Ver­länge­rung, Erhöhung/rafʿ, eines isnād, die Rückwärts­projektion eines ṣahābī-Spruches auf den Propheten darf nicht mit der Verbesserung eines isnād mursal in einen isnād muttaṣil verwechselt werden, wo „nur“ das fehlende Glied auf der Stufe der ṣahāba ergänzt wird. Da vor aš-Šāfiʿī keine lücken­lose Kette gefordert war, können frühe (!) asānīd mursala durch­aus echt sein. Doch wenn Rechtsgelehrte erst mit einer eigenen Rechts­auskunft zitiert werden und später genau die gleiche nun vom Propheten gehört haben sollen, so werden Gut­mütigkeit und Leichtgläubigkeit auf eine harte Probe gestellt.

[64] Nicht ‚hadīṯ-Werk‘ : es handelt sich um ein fiqh-Werk, in dem Mālik den medinensischen iǧmāʿ oder gar seinen raʾy vorstellt, ohne alles mit (Qurʾān und) hadīṯ zu belegen. Siehe hierzu Yasin Dutton: “ʿAmal v. Ḥadīṯ in Islamic Law,” in Islamic Law and Society III, 1996, S. 1–40.

[65]Riwāyat Yahyā b. Yahyā al-Laiṯī, kitāb al-hudūd (k. 41) 1.11 = al-Qāhira: Dār al-ihyaʾ al-kubrā al-ʿarabīya, 1370/1951, S. 825 = Bairūt: Dār al-Aflāq al-Ǧadīda, 1405/1985, S. 714

[66]Vgl. Motzki: „Wal-muḥṣanātu mina n-nisāʾi illā mā malakat aimānukum (Koran 4:24) und die koranische Sexualethik“, in Der Islam LXIII, 1983, S. 57–65.

[67] J. Schacht: Zināʾ in 1EI IV S. 1328; siehe Gaudefroy-Demombynes: Radjm in 1EI III S. 1181.

[68] Th. W. Juynboll: Ḥadith in 1EI II S. 204: „[die Sunan] enthalten nicht nur Traditionen, die als ṣahīh gelten, sondern … überhaupt alle Über­lieferun­gen, auf welche die Gelehr­ten sich bei der Aus­arbeitung des Gesetzes berufen haben, selbst wenn man übrigens gegen ihren Isnād Bedenken hegen kann“.

[69] Und zwar: (1) der Prophet – (2) ʿAbdallāh b. ʿAbbās – (3) dessen im Jahr 105 gestorbener maulā ʿIkrima – (4) Abū ʿUṯmān ʿAmr b. Abī ʿAmr – (5) ʿAbdalʿazīz b. Muhammad. Bei at-Tirmiḏī und Ibn Māǧa ist auch das sechste Glied, ihr unmittel­barer Gewährs­mann, gleich: Muhammad b. ʿAmr. Es sei ange­merkt, daß schon ʿAbdar­razzāq den hadīṯ hat – mit nur drei gleichen Gliedern.

[70] Ibn al-Ǧauzī: Ḏamm al-hawā, S. 197–210.