LIWĀT IM FIQH
Die meisten orientalistischen Äußerungen zu liwāṭ im fiqh sind knapp, summarisch und falsch. Erich Pritsch und Otto Spies schreiben etwa:
„widernatürlicher Geschlechtsverkehr [ist] mit keiner bestimmten Strafe bedroht, [seine] Bestrafung ist vielmehr dem Ermessen des Richters überlassen.“ [71]
Claude Cahen schreibt: „Unberührt von der Beschränkung der gesetzlichen Eheschließungen blieb die Freiheit des Mannes, Verbindungen mit Sklavinnen einzugehen oder homosexuelle Beziehungen zu unterhalten, worin die aus der Antike stammenden Sittenanschauungen eine fast normale Ergänzung der ehelichen Verbindung sahen.“ [72]
Emile Tyan: „Sittlichkeitsverbrecher wurden im allgemeinen kastriert.“[73]
Etwas brauchbarer ist die Stelle in Nikolaj Egorovič von Tornauws Das Moslimische Recht [74]:
„Wenn zwei volljährige Personen miteinander Päderastie, lewote, treiben, so trifft beide die Todesstrafe, ketl. (Andere Sekten. Die Schafiiten bestrafen die Päderastie mit dem redjm; die Azemiten stellen es dem Imām anheim, die Art der Todesstrafe zu bestimmen.) Wenn ein Volljähriger mit einem Minderjährigem …“
Lodewigk Willem Christiaan van den Berg stellt in seiner Darstellung der Prinzipien des Muslimischen Rechts fest: „Nach Šāfiʿī fallen Sodomie und Bestialität unter zinā. Nach Abū Ḥanīfa sind diese Verbrechen beim ersten Mal mit taʿzīr strafbar, nach Rückfall mit dem Tode.“[75]
Erwin Gräf bleibt zu allgemein:
Arten von widernatürlicher Unzucht, Sodomie, Bestialität, Verkehr mit einer Toten etc. werden (am) … Unzuchtsbegriff gemessen: sie werden ihr teils gleichgesetzt, teils als schlimmer, teils als harmloser angesehen. Das entscheidende Kriterium der Beurteilung ist die Frage, was als das Gravierende der Unzucht angesehen wird. Wer z.B. die Korrumpierung geordneter Fortpflanzungsverhältnisse durch sie für relevant hält, wird die genannten Formen nicht als Unzucht ansehen und sich mit einer Ermessensstrafe des Richters zufrieden geben; er denkt allenfalls daran, daß Derartiges Ursache für sinkende Geburtenziffern sein kann und vergleicht es mit dem coitus interruptus und der Onanie. Wer bei Sodomie an die (im Koran erzählte) Geschichte von Lot und den Sodomitern und die göttliche Bestrafung der Letzteren (Koran 7,78ff) denkt, wird sie wie Unzucht oder noch strenger (eventuell sogar, wie der erste Khalife Abu Bekr, durch Verbrennen) bestrafen.[76]
Léon Bercher schreibt in Les délits et les peines de droit commun prévu par le Coran:
… bei den Mālikiten und Šāfiʿīten ist die Sodomie lato sensu eine Art zinā. Die Ḥanafiten betrachten sie nicht als solche, belegen sie nicht mit einer ḥadd-Strafe, sondern nur mit einer ins Ermessen des Richters gestellten Züchtigung. Abū Yūsuf und Muḥammad [aš-Šaibānī] waren jedoch der entgegengesetzten Meinung. Andere ḥanafitische Autoren unterscheiden zwischen Päderastie und Sodomie mit einer Frau – wobei letztere zinā darstellt, sofern es mit einer fremden Frau begangen wurde. … Die Ḥanafiten rechtfertigen ihre Meinung zur Päderastie mit dem wohlbekannten ḥadīṯ: ‚Das Blut eines Muslims kann nur aus drei Gründen rechtens vergossen werden: zinā für den muḥṣan,[77] Abfall vom Glauben, Tötung eines Menschen außer bei Hinrichtung.‘ Und da man auf diesem Gebiet vorsichtig sein muß, darf man Päderastie nicht als zinā fassen. Die Anhänger der gegenteiligen Ansicht berufen sich auf einen anderen ḥadīṯ …, demzufolge der Prophet gesagt habe: ‚Die, die Sodomie begehen, steinigt den Aktiven und den Passiven, steinigt sie beide.‘ Aber die Ḥanafiten erklären diese Tradition natürlich für schwach.[78]
Die bislang einzige etwas längere islamkundliche Äußerung zu liwāṭ im fiqh stammt aus dem EI-Artikel Pellats:[79]
Der ḥadīṯ bezüglich der Strafe des lūṭī dient im allgemeinen den Meinungen der Juristen als Grundlage, aber es entwickelt sich eine Unterscheidung je nachdem, ob der Schuldige muḥṣan ist oder nicht, das heißt ungefähr, ob er verheiratet ist [sic] oder Junggeselle. Ibn Ḥambal und seine Schüler scheinen die Strengsten zu sein, denn sie halten dafür, daß der Schuldige in jedem Fall durch Steinigung zu töten sei, während die anderen Schulen sich im allgemeinen mit Auspeitschung mit oder ohne Verbannung begnügen, wenn er nicht muḥṣan ist; man muß noch hinzufügen, daß manchmal empfohlen wird, die vorgesehene Strafe (100 Hiebe) nicht ganz anzuwenden, und Ibn Ḥazm geht so weit, die Zahl der zu verabreichenden Hiebe auf 10 zu verringern. Diese Unterschiede ergeben sich ganz automatisch aus der Unsicherheit, die die Festlegung der Strafe für Hurer (…) umgeben, aber sie geben auch eine Neigung zur Nachsicht wider; zusätzlich ist der Beweis nur schwer zu erbringen und so ist der Vollzug der Strafe äußerst selten.[80]
Ob die aḥādīṯ den Meinungen der Juristen als Grundlage dienten oder ob die Meinungen der Juristen gerade erst die „Suche“ nach entsprechenden aḥādīṯ stimulierten, sei dahingestellt.
1. DIE ḤANAFITEN
Bergsträßer schreibt: „Für widernatürlichen Geschlechtsverkehr“ gilt taʿzīr;[81] Schacht schreibt an der entsprechenden Stelle seiner ‚Bearbeitung‘ :
Whether ḥadd is applicable or not is disputed … for homosexuality. If … ḥadd is not applicable, then at least taʿzīr is. [82] (erklärende Übersetzung: Ob es für Homosexualität eine festgelegte Strafe gibt, ist umstritten. Falls eine festgelegte Strafe nicht angewendet werden kann, kann wenigstens eine ins Belieben des Richters gestellte Züchtigung verhängt werden – wobei er unterhalb des Strafmaßes der festgelegten Strafe bleiben soll.[83])
Abū Ḥanīfa (gest. 150/767) spielt in dem nach ihm benannten maḏhab eine kleinere Rolle als die Namenspatrone der anderen maḏāhib. Zum einen kann man seinen Lehrer, Ḥammād b. Abī Sulaimān (gest. 120/738) als Gründer ansehen. Zum andern stammen die ersten Werke der Schule von seinen beiden Schülern Abū Yūsuf Yaʿqūb (gest. 182/798) und Muḥammad b. al-Ḥusain aš-Šaibānī (gest. 189/805).[84]
Die Stelle in Šaibānīs al-Ǧāmiʿ aṣ-ṣaġīr lautet: „Ein Mann, der das Tun des Volkes von Lūṭ tut, ist zu züchtigen (nach Gutdünken des Richters) und im Gefängnis zu halten.“[85]
Klassische Juristen
Das erste große systematisierende, analysierende ḥanafitische fiqh-Werk, den Mabsūṭ, verfaßte Šamsaddīn Abū Bakr Muḥammad as-Saraḫsī (gest. 500/1106 oder früher); es handelt sich um einen Kommentar zum Kāfī des Ḥākim aš-Šahīd (gest. um 400/1010), der seinerseits eine Zusammenfassung der Werke Šaibānīs ist. Zuerst ein Zitat aus dem Kāfī: „Wer eine fremde Frau in ano koitiert, wird nach Abū Yūsuf und Muḥammad [aš-Šaibānī] mit ḥadd bestraft, nach Abū Ḥanīfa mit taʿzīr. Desgleichen sind nach Abū Ḥanīfa bei liwāṭ beide [der Penetrierer und der Penetrierte] mit taʿzīr zu züchtigen, und bei den beiden [Abū Yūsuf und Šaibānī] gilt für beide die ḥadd-Strafe für zinā: sie werden beide gesteinigt, wenn sie muḥṣan sind, und werden beide ausgepeitscht, sind sie es nicht. So auch eine Meinung von Šā fiʿī; nach seiner anderen Meinung werden sie beide in jedem Fall hingerichtet, da vom Propheten überliefert wird uqtulū l-fāʿil wa-l-mafʿūl bihī und urǧumū l-aʿlā wa-l-asfal. … Wer dies Tun für erlaubt erklärt, begeht Apostasie und wird deshalb hingerichtet …“ Saraḫsī bringt erst die Argumente für ḥadd az-zinā, dann die dagegen. Dafür spricht, daß liwāṭ und zinā im Qurʾān mit dem gleichen Namen „fāḥiša (Greueltat, abscheuliche Tat)“ belegt sind und daß sie das gleiche Ziel verfolgen: Samenerguß in einem von Natur her begehrten, warmen und weichen Ort. Die Definition von zinā gilt auch für liwāṭ: „Verbotenes Eindringen in eine Körperöffnung, deren Verhüllung vorgeschrieben ist, und in welche das Eindringen rituelle Reinigung nötig macht.“[86]
Die Gegenposition unterstreicht die Unterschiede: „Greueltat“ heißen alle großen Sünden (kabāʾir), doch sind sie verschieden und werden unterschiedlich bestraft. Im ḥadīṯ „Wenn ein Mann einen Mann koitiert, sind sie beide Hurer“ liegt übertragener Sprachgebrauch vor. Die Sprachkundigen unterscheiden zwischen lūṭī und zānī. In ano findet keine Befruchtung statt, es kommt nicht zu angezweifelten Vaterschaften, die Rechte des Wächters des (Ehe-) Bettes, Vater bzw. Ehemann, sind nicht tangiert. Es ist auch seltener, weil die Begierde – besonders auf der Seite des/der Penetrierten – geringer ist. Die Prophetengefährten waren über die Bestrafung von liwāṭ uneins, was sich mit ḥadd nicht verträgt. Der Einwand, die Gefährten seien sich nur über die genaue Form der Strafe uneins, aber nicht über die Tötung (des muḥṣan), zieht nicht, weil – wie den Gefährten bekannt – für zinā eine geoffenbarte Strafe feststeht; da sie aber über die Strafe für liwāṭ uneins waren, sahen es sie es nicht als zinā an, und die festgelegte Strafe für zinā kann nicht für etwas anderes als für zinā gelten. Ein Analogieschluß führt niemals zu ḥadd.
Es mag daran liegen, daß die Gründer der Schule uneins waren oder an rationalistischen, muʿtazila-nahen Neigungen der Ḥanafiten oder daß sie unter Rechtfertigungsdruck standen: die anderen großen Rechtsschulen hatten ḥadd-Strafen für liwāṭ festgelegt. Jedenfalls argumentieren die Autoren der klassischen ḥanafitischen Werke dort, wo viele nur dekretieren. So verteidigt ʿAlāʾaddīn Abū Bakr b. Masʿūd b. Aḥmad al-Kāsānī (gest. 587/1191) taʿzīr gegen die Vertreter der ḥadd-Strafe mit sechs Gründen:
1. Es gibt zwei deutlich geschiedene Begriffe zanā/zinā/zānī und lāṭa/liwāṭ/lūṭī und nicht etwa ‚zinā von vorn‘ und ‚zinā von hinten‘ .
2. Die Prophetengenossen waren sich über die Bestrafung uneins. Da es für zinā eine festgelegte Strafe gab, zeigt dies, daß sie es nicht für zinā hielten.
3. Während solche Uneinigkeit mit ḥadd unvereinbar ist, verträgt liwāṭ sie.
4. Es hat auch nicht die gesellschaftlich disruptive Wirkung von zinā, weil es weder zu Unklarheiten bei den Abstammungsverhältnissen führt, noch zu (dadurch bedingter) Vernachlässigung der Kinderfürsorge.
5. Es ist eher wie coitus interruptus als Samenverschwendung zu betrachten; und coitus interruptus ist nur makrūh.
6. Während zu zinā die Initiative von beiden ausgehen kann, dem Penetrator und der Penetrierten, hat bei liwāṭ der Penetrierte/die Penetrierte kein sexuelles Interesse, keine Lust.[87]
Auch Burhānaddīn ʿAlī b. Abī Bakr al-Marġīnānī (gest. 593/1197) handelt Analverkehr an Frau und Mann zusammen ab.[88] Er teilt Abū Ḥanīfas Ansicht, daß dies mit taʿzīr zu züchtigen sei. Šaibānī wird mit zwei Meinungen erwähnt: als Autor der Ǧāmiʿ aṣ-ṣaġīr mit Gefängnis bis zum Tod oder bis zur Umkehr, und zusammen mit Abū Yūsuf mit der Meinung, daß es zinā sei; Šāfiʿī wird außer mit der Meinung, es sei zinā, mit der Meinung angeführt, der Obere und der Untere seien zu köpfen. Marġīnānī vermutet aber, der ḥadīṯ, auf den sich Šāfiʿī hier beruft, habe sich auf einen ungewöhnlich schlimmen Fall bezogen oder auf jemanden, der mit (seinem Vergehen) stolz geprahlt habe oder es für gesetzlich (ḥalāl) erklärt habe.[89]
Im Kommentar zu Marġīnānīs Hidāya wendet sich Ibn al-Humām ausdrücklich gegen das Unterscheiden von Analkoitieren des Knaben (ġulām) und dem der Frau. Obwohl die Nachrichten und Sprüche über die verschiedenen Tötungsarten alle von Männern handeln, leiten Abū Ḥanīfa und die meisten Ḥanafiten aus der Uneinigkeit das Nicht-ḥadd-Sein der liwāṭa allgemein ab. Ibn al-Humām referiert einige einschlägige aḥadiṯ und unterzieht ihre überliefererketten der üblichen Kritik. Er hält sie zwar für zu schwach, um damit ḥadd-Tötung zu rechtfertigen, sieht in ihnen jedoch eine Stärkung der Position, die Tötung des Wiederholungstäters aus Gründen der öffentlichen Ordnung zu erlauben.
Postklassische Juristen
Während frühe und mittlere Ḥanafiten für liwāṭ in der Regel mildere Strafen vorsahen als die Juristen der andern Schulen, passen sich die späteren an. Dies geschieht auf zwei Arten:
1. Ibrāhīm al-Ḥalabī (gest. 956/1549) schreibt in seinem – im osmanischen Reich große Geltung erlangenden – Multaqā al-abḥur: „Und ebenso für das Koitieren in einen weiblichen [wörtl: ihren] Anus und das Tun der Tat des Volkes von Lūṭ: auf beides steht ḥadd.“[90]
2. Der zweite Weg, der uns in Ibn al-Humāms (gest. 861/1457) Kommentar zur Hidāya, dem Fatḥ al-qadīr,[91] begegnet, ist der interessantere, zwingt aber zu einigen generellen überlegungen über das Verhältnis zwischen Ḥanafiten und den übrigen Sunniten.
Exkurs zum ḥadd bei Ḥanafiten und übrigen Sunniten
Welche Tatbestände mit ḥadd belegt sind, ist keineswegs unumstritten. Andererseits ist es auch nicht völlig regellos so, daß die einen dies, die andern jenes mit ihr belegten, vielmehr neigten die Mālikiten zur Ausdehnung des ḥadd-Bereichs (sadd aḏ-ḏarāʾiʿ) und die Ḥanafiten zur Ausweitung der wegen Zweifel unter Vorbehalt (šubha) gestellten Tatbestände; sie betonten die Tendenz der šarīʿa,
die Menschen nicht in Bedrängnis zu bringen.
Sadd aḏ-ḏarāʾiʿ, also die ‚Verhinderung von Ausreden‘ oder auch ‚Zaun gegen Schliche‘, erinnert an den rabbinischen Zaun um das Gesetz, den səyāg lat-tôrā: „Nach diesem Prinzip beschränkt sich der Verbotsbereich nicht nur auf das, was gesetzlich bestimmt war, sondern umfaßte darüber hinaus alles, was zur Begehung des Verbotes ḥarām oder Unterlassung des Gebotes wāǧib führen könnte. In dieser Schule galt dieses präventive Prinzip als Rechtschöpfungsquelle, wenn Qurʾān und Sunna schweigen.“[92]
Die qurʾānische Stütze für diese Auffassung liefert II 187: „… Dies sind Gottes Grenzen. Nähert euch ihnen nicht!“
Die mittleren ḥanafitischen Juristen begründen ihre Tendenz, den ḥadd-Bereich einzufischränken, mit „einem in vielen Varianten wiederkehrenden Satz. In den Worten von Saraḫsī, des bekannten ḥanafitischen Juristen des 11. Jahrhunderts, liest er sich wie folgt:
‚…Gott ist erhaben darüber, daß ihm ein Mangel anhafte(n) (könnte), so daß er in seinen Rechtsansprüchen des Ausgleichs bedürfe‘ (IX 36). Deswegen kann man die Rechtsansprüche Gottes unerfüllt lassen, weil, so sagt Saraḫsī: ‚… er zu erhaben ist, als daß ihm ein Verlust oder ein Schaden anhaften könnte.‘ (IX 69)“[93]
Nun sind aber nicht einfach die Mālikiten die harten Strafer und die Ḥanafiten die milden Tadler, sondern in dem Maße, in dem ḥadd eingeschränkt wird, vergrößert sich der taʿzīr-Bereich und hier gestatten die späten Ḥanafīten durchaus harte Züchtigungen bis hin zur Hinrichtung. Während die Ẓāhiriten und die meisten Šāfiʿīten und Ḥambaliten vorschreiben, daß die taʿzīr-Maßfinahme für eine „ḥadd-ähnliche“ Tat (Tat, bei der wesentliche Merkfimale der ḥadd-Tat gegeben sind, aber šubha vorliegt) unter dem Strafmaß der entsprechenden ḥadd-Strafe liegen müsse, sind die späteren Ḥanafiten hier weniger rigoros. Sie greifen die von Vertretern der anderen Rechtsschulen ab dem 11.. Jahrhundert entwickelten Doktrin der siyāsa, welche die Rechtseingriffe der Obrigkeit (sulṭān, šurṭa, muḥtasib, Militär) regeln sollte, ab dem 15. Jahrhundert in einer Weise auf, daß hier „taʿzīr und siyāsa zusammenfallen“.[94] Das heißt, sie geben dem qāḍī das Recht, im taʿzīr-Bereich Todesstrafe, Gefängnis, Auspeitschung nach Gutdünken anzuordnen.[95]
Hier sind Äußerungen von Ibn al-Humām und von Ibn ʿĀbidīn von Interesse. Ibn al-Humām schreibt (die Zitate in seinem Text sind aus Marġīnānīs Hidāya): „‚Wer eine Frau koitiert‘ , d.h. eine Fremde [d.h. weder Ehefrau noch legale Konkubine A.S.] ‚in den verhaßten Ort‘ , d.h. in ihren Anus ‚oder die Tat des Volkes von Lūṭ tut, für den gibt es bei Abū Ḥanīfa keine ḥadd-Strafe, sondern taʿzīr‘ ; er soll gefangen gehalten werden, bis er stirbt oder bereut. Und sollte er die liwāṭa wiederholen, tötet ihn der Imām siyāsatan, sei er muḥṣan oder nicht. … [Es gilt ferner] die Tötung des Wiederholungstäters nach der Meinung des Imām.“[96]
Ibn ʿĀbidīn erlaubt Tötung des rückfälligen lūṭī šiyāsatan“, d.h. wenn es für die öffentliche Ordnung nötig ist, obwohl das göttliche Gesetz dafür Tötung nicht vorsieht[97] – so wie der Imām den durch Schönheit Verwirrung Stiftenden verbannen kann, obwohl er sich nichts hat zu Schulden kommen lassen.
Liwāṭ nur contra Deum oder auch contra naturam
Dann kommt in Ibn al-Humāms Kommentar – ohne Bezug auf eine Stelle bei Marġīnānī – eine kurze Erörterung der Frage, ob es liwāṭ im Paradies gebe: „Es wird gesagt: wenn er aus Verstandesgründen (ʿaqlan) und wegen der Offenbarung (samʿan) verboten sei, so gebe es ihn (im Paradies) nicht, und wenn er (nur) wegen der Offenbarung verboten sei, könne er (dort) existieren. Das Richtige ist, daß er im Paradies nicht existieren kann, weil Gott ihn weit von sich wies und für hassenswert erklärte.“[98]
Ibn ʿĀbidīn geht in Radd al-muḥtār, seinem Kommentar zu Ḥaṣkafīs Durr al-muḫtār, der seinerseits Mullā Ḫusraws (gest. 885/1480) Durar al-ḥukkām[99] kommentiert, auf diese Frage ein: „Sein [= Ḥaṣkafīs] Ausspruch ‚Und die liwāṭa gibt es nicht im Paradies.‘ As-Suyūṭī sagte [im Nawāḍir al-aik fī nawadir an-naik]: ‚[Abu l-Wafāʾ ʿAlī] Ibn ʿAqīl [b. Muḥammad] al-Ḥambalī [gest. 513/1119] sagte: Es kam darüber zwischen Abū ʿAlī [Muḥammad b. Aḥmad] b. al-Walīd al-Muʿtazilī [al-Ḥanafī gest. 478/1086] und Abū Yūsuf al-Qazwīnī [az-Zaidī gest. 488/1095] zum Disput. Ibn al-Walīd sagte: ‚Es ist nicht verboten, daß jenes zur Gesamtheit der Genüsse des Paradieses gehört, weil das Unmoralische [dieses Tuns dort] aufhört. Denn es ist auf Erden verboten, weil es die Fortpflanzung behindert und schädlich ist. Und im Paradies gilt beides nicht. Und deswegen wurde das Weintrinken erlaubt, weil es [ja im Paradiese] nicht betrunken macht, also weder zur Streitsucht noch zu (zeitlichem) Schwinden des Verstandes führt. Deshalb wurde sein Genuß im Paradies nicht verboten.‘ Und Abū Yūsuf sagte: ‚Die Neigung zu Männlichen ist eine Schwäche/ Krankheit und sie ist an und für sich häßlich, weil (der Anus) ein Ort ist, der nicht für den Koitus geschaffen ist. Deswegen wurde er in der šarīʿa nicht erlaubt. Im Unterschied zum Wein verliert [liwāṭ im Paradies] seine rituelle Unreinheit nicht, [denn] das Paradies ist frei von Schwächen/ Krankheiten.‘“[100]
2. DIE MĀLIKITEN
Bei den Mālikiten liegt eine derart klare – und dazu noch einzige – Textstelle vom Gründer der Schule vor, daß keine Debatten zu erwarten waren. Mālik b. Anas (gest. 178/795) berichtet, daß er Abū Bakr Muḥammad b. Muslim Ibn Šihāb az-Zuhrī (gest. 124/742) über denjenigen befragt habe, der die Tat des Volkes von Lūṭ tut: „Ibn Šihāb sagte: Über ihn komme die Steinigung, sei er muḥṣan oder nicht.“[101]
Klassische Juristen
Entsprechend findet man in der Risāla des meistzitierten klassischen Juristen, Abū Muḥammad ʿAbdallāh Ibn Abī Zaid al-Qairawānī (gest. 386/996):
„Wenn einer an einem volljährigen und gewährenden Männlichen die Tat des Volkes von Lūṭ tut, werden beide gesteinigt, seien sie muḥṣan oder nichtt.“[102]
Postklassische Juristen
Im Werk des postklassischen Juristen Ḫalīl b. Isḥāq b. Mūsā (gest. 767/1365) al-Muḫtaṣar fī fiqh al-Imām Mālik gibt es keinen extra Satz über liwāṭ; es wird unter zinā subsumiert; bei der Definition wird es Vaginalunzucht gleichgestellt: „ebenso als Sodomie (wa-in liwāṭan)“.
Die Strafe der Steinigung wird jedoch nicht an die Bedingung des vorausgegangenen legalen Koitus gebunden; sie erfolgt in jedem Fall (muṭlaqan).[103]
Problem: liwāṭ am eigenen Sklaven I
Ein Aspekt bleibt unklar: Ḫalīl schreibt: „… der lāʾiṭ wird in jedem Fall (muṭlaqan) gesteinigt, auch wenn es sich um zwei Sklaven und zwei Ungläubige handelt.“ Das heißt doch wohl, daß das Verbot für freie Muslime aneinander, für Sklaven aneinander und Ungläubige aneinander gilt, aber nicht für den freien Muslim, der einen Sklaven oder einen Ungläubigen *lutet.
Die gegenteilige Auffassung, daß auch liwāṭ am eignen Sklaven verboten ist, müßte von Juristen genauer ausgedrückt werden; so schreibt der ḥambalitische Jurist Ibn Taimīya in seiner Siyāsa: Die Sodomiten „sollen gesteinigt werden, gleich ob sie beide frei sind oder Sklaven, oder einer von ihnen frei und der andere ein Sklave ist, sofern sie volljährig sind.“[104] G. H. Bousquets Traduction Nouvelle begräbt den wahrscheinlich gemeinten Sinn: « Le zina est le coït … même in vaso indebto; le partenaire étant: 1) un mâle, son esclave, ou non … »[105]
Daß es hier nicht um belanglose Übersetzungsfeinheiten geht, entnehme man dem 485/1092 von Abu l-Maʿālī Muḥammad b. ʿUbaidallāh auf Persisch verfaßten Bayān al-adyān, in dem es heißt, daß Mālikiten liwāṭ an den Mitgliedern des Haushalts (ʿiyāl) erlauben.[106] In Ibn Falītas Rušd al-Labīb[107] beruft sich ein muʾaḏḏin, der einen Christenjungen beschlief, auf Sure IX 120: „Sie werden keinen Einfall machen (wa-lāyaṭaʾūna mauṭiʾan), der den Groll der Ungläubigen hervorruft, ohne daß ihnen dafür eine rechtschaffene Tat gutgeschrieben würde.“ Da das *Luten des eigenen Sklaven und das von Juden und Christen gesellschaftlich gebilligt wurde, muß eine davon abweichende Regelung klar à la Ibn Taimīya ausgedrückt werden.
Auch viele ḥanafitische Juristen klassifizieren liwāṭ am
(eigenen) Sklaven mit dem an der (eigenen) Sklavin und an der Ehefrau – so Ibn al-Humām[108] und noch deutlicher Ḥaṣkafī (gest. 1088/1677) in ad-Durr al-muḫtār: „… das Koitieren in ano: die Beiden [Abū Yūsuf und Muḥ. aš-Šaibānī] sagten [dazu]:
Wenn es an Fremden [gleich welchen Geschlechts A.S.] gemacht wird, fällt es unter ḥadd-Verbot. Und wenn es an seinem Sklaven oder seiner Sklavin oder seiner Frau [gemacht wird], fällt es nach dem Konsens nicht unter ḥadd-Verbot …“[109]
Der Ǧaʿfarit al-ʿĀmilī (s. S. 89) weist darauf hin, daß einige fuqahāʾ seines maḏhab die ḥadd-Strafe für das Beschlafen des Sklaven (mamlūk) ablehnen wegen des Vorbehalts des Vorrangs des rechtmäßigen Besitzes (šubhat ʿumūm taḥlīl milk al-yamīn), und Faḫraddīn Muḥammad ar-Rāzī (543/1149–606/1209) referiert in seinem Tafsīr al-kabīr[110] zu VII 80[111] die Auffassung, daß XXXIII 5/6 (Selig sind die, … die sich des Geschlechtsverkehrs enthalten außer gegenüber ihren Gattinnen und was sie besitzen.) Verkehr mit dem männlichen Sklaven erlaube, da beide Verse gleich allgemein sind: der eine erlaubt den Verkehr mit Sklaven generell, der andere verbietet den Verkehr mit
Männlichen generell. Auch sei das Verbot an einen früheren Propheten ergangen, die Erlaubnis an Muḥammad. Prinzipiell sei erlaubt, was nicht eindeutig verboten ist. Wir werden darauf zurückkommen.
3. DIE ŠĀFIʿITEN
Eduard Sachau (1845–1930) schreibt in Muhammedanisches Recht nach schafiitischer Lehre:
Die Strafe für Unzucht a parte postica und Sodomiterei ist dieselbe wie für Unzucht im Allgemeinen.[112]
Zur Strafe für Unzucht a parte postica ist zu bemerken: Excipiuntur et uxor et serva propriae. Si crimen contra eas commissum repetitur, sceleratus punitur non poena scortationis sed flagellatione a judice de finienda. Si non repetitur, non est poena. ([Pedicatio der] eigenen Ehefrau und Sklavin sind ausgenommen. Wenn das Verbrechen gegen diese wiederholt wird, wird der Unzüchtige nicht mit ḥadd az-zinā bestraft, sondern mit Auspeitschung nach Gutdünken des Richters. Ohne Wiederholung, keine Strafe. A.S.)
Wer muḥṣan ist, wird gesteinigt; wer nicht muḥṣan, wird gegeißelt und verbannt. Nach einer anderen Ansicht soll der Verbrecher unter allen Umständen getötet werden, nach anderen soll eine Mauer auf ihn gestürzt und nach einer vierten Ansicht soll er von einer Höhe herabgestürzt werden.
Das Opfer des Verbrechens soll, wenn es verantwortungsfähig war und sich willig dem Verbrechen ergab, gegeißelt und verbannt werden; dagegen wenn es nicht verantwortungsfähig war oder gezwungen wurde, ist es straffrei.
Sodomita si muḥṣan est punitur lapidatione, si non est muḥṣan punitur et flagellatione et exsilio. Attamen altera et praehabenda eaque est sententia sodomitam flagellatione a judice definienda esse puniendum, non poena scortationis.[113] (Der Sodomit wird mit Steinigung bestraft, wenn er muḥṣan ist. Ist er es nicht, wird er mit Geißelung und Verbannung bestraft. Demgegenüber gibt es die andere und vorzuziehende Meinung, daß der Sodomit nach Ermessen des Richters durch Auspeitschung zu bestrafen sei, nicht mit ḥadd.)
In aš-Šāfiʿīs Kitāb al-umm konnte ich zu liwāṭ an Männlichen nichts entdecken, doch die iḫtilāf-Literatur und alle möglichen fuqahāʾ schreiben ihm übereinstimmend zwei Meinungen zu: zum einen die Steinigung in jedem Fall und zum andern die Steinigung für den muḥṣan sowie Auspeitschung und Verbannung (für ein Jahr) für den ġair muḥṣan – letzteres ist nach ʿAbdalwahhāb aš-Šāʿrānīs Mīzān al-kubrā[114] die maßgebendere (arǧaḥ) Ansicht.
Klassische Juristen
Abū Isḥāq Ibrāhīm b. ʿAlī aš-Šīrāzī al-Fīrūzābādī (gest. 476/1083) gibt im Kitāb at-Tanbīh genau diese beiden Meinungen wieder, ohne eine Präferenz erkennen zu lassen.[115] Abū Bakr Muḥammad al-Ḥusain al-Āǧurrī (gest. 360/971) sieht für den lūṭī, denjenigen der einen Mann oder Jungen (ġulām) anal koitiert, Steinigung vor, für Schenkelverkehr eine schwere, ins Belieben gestellte Bestrafung. Terminologisch ist interessant, daß er die minder schwere Form ityān „fī ġair ad-dubr“ nennt.[116]
Postklassische Juristen
Abū Šuǧāʿ al-Iṣfahānī (gest. 499/1106), Muḫtaṣar: „Die Strafe für liwāṭ ist die ḥadd-Strafe für zinā.“[117] Ibn Qāsim al-Ġazzī (gest. 918/1528), Fatḥ al-Qarīb: „Wer eine Person *lutet, d.h. sie in ano koitiert, wird nach der Meinung des maḏhab mitḥadd bestraft.“[118]
Problem: liwāṭ am eigenen Sklaven II
Muḥyiddīn Abū Zakarīyāʾ Yaḥyā b. Šaraf an-Nawawī (gest. 676/1277)
widmet liwāṭ keinen besonderen Satz, sondern subsumiert ihn unter zinā. Im Kitāb az-zinā, dem 52. Buch seines Minhāǧ aṭ-ṭālibīn, schreibt er: „Auf Einführen des Penis in eine Öffnung von jemandem, der einem verboten ist (muḥarramin li-ʿainihī) steht ḥadd … und der
männliche und weibliche Anus sind (hierin) der Vagina gleich – nach dem maḏhab.“[119]
Das Einführen des Penis in den dubr der Ehefrau, der eigenen Sklavin und des eigenen Sklaven fällt nicht unter ḥadd. [120]
Eine weitere Stelle zu diesem Problem enthält das Ṭabaqāt-Werk des Tāǧaddīn Abū Naṣr as-Subkī (gest. 771/1370);[121] danach soll Abū Sahl [Aḥmad b. ʿAlī al-Abīwardī (gest. 425/1033)] erklärt haben, daß wer seine Sklaven *lutet (yalūṭu bi-ġulāmin mamlūk), nicht mit ḥadd bestraft wird. „Der Qāḍī[122] sagte: ‚wahrscheinlich hat er es in Analogie zum Koitieren der zoroastrischen Sklavin oder der Milchschwester gesagt.‘ … Der Autor des Baḥr[123] urteilt, daß die ḥadd-Strafe wegen des Vorbehaltes des Besitzes nicht angewandt wird (bi-anna milkahu fīhi yaṣīru šubhatan fī suqūṭi l-ḥadd).“
Nach Anderen, etwa ar-Rifāʿī (gest. 578/1182, GAL S I, S. 780f), fallen *Luten des eigenen wie des fremden Sklaven, so wie Beschlafen des Viehs unter taʿzīr.
4. DIE ḤAMBALITEN
Ibn Ḥambal hat in seinen Musnad Sprüche gegen das gemeinsame Unter-einer-Decke-Schlafen von Männlichen (und von Weiblichen) aufgenommen, solche, in denen lūṭīs verflucht werden, andere, die Analverkehr an Frauen verbieten, einen, nach dem der Prophet liwāṭ für seine Gemeinde fürchtete, sowie den uqtulū-Spruch.
Ibn al-Aṯīr erwähnt[124] und Adam Mez berichtet: „Im Jahre 323/934 gingen die muslimischen Ultras, die Ḥambaliten, in der Hauptstadt täglich gegen die Unsittlichkeit vor, stürmten die Häuser der Vornehmen, ließen die Weinfäßer auslaufen, schlugen die Sängerinnen, zerbrachen ihre Instrumente und verboten, daß Männer mit Frauen und Knaben auf der Straße gingen.“ (Sperrung Mez)[125]
Klassische Juristen
Die beiden größten ḥambalitischen Juristen der Zeit des Niedergangs und Endes des abbasidischen Kalifats, Ibn Taimīya (gest. 728/1328), und Ibn Qudāma (gest. 620/1223) sehen unterschiedliche Bestrafung von liwāṭ vor. Ibn Taimīya stützt sich auf den Prophetenspruch: „Wen ihr findet, der die Tat des Volkes von Lūṭ tut, tötet den Aktiven und den Passiven.“ und sieht in jedem Fall – Zurechnungsfähigkeit vorausgesetzt: Verstand und Volljährigkeit – Steinigung vor; explizit auch dann, wenn einer von beiden Sklave ist.
Ibn Qudāma subsumiert liwāṭ – ob an Frauen oder Burschen (an Männern erwähnt er nicht!) – unter zinā, schreibt folgerichtig[126] auch keine andere Strafe vor, Steinigung für den muḥṣan und Auspeitschung für den ġair muḥṣan.[127]
Ibn Qudāma beginnt den Bāb ḥadd az-zinā:
„Wer das Abscheuliche in vaginam vel anum[128] einer Frau, die er nicht besitzt [an der er weder als Ehemann, noch als Sklavenhalter das Recht zum Beischlaf besitzt A.S.] oder eines Knaben (ġulām) tut oder wem dies gemacht wird, seine/ihre Strafe ist die Steinigung, so er/sie muḥṣan ist, 100 Hiebe, Verbannung auf ein Jahr (taġrīb ʿām), so nicht.“[129]
ʿAbdarraḥmān b. Ibrāhīm al-Maqdisī (gest. 624/1227) bringt im Kommentar zu dieser Stelle auch die abweichende Meinung von ʿAlī, Ibn ʿAbbās, Ǧābir und Aḥmad b. Ḥambal, nach welcher auch der ġair muḥṣan zu steinigen sei, stützt aber die Subsumierung von liwāṭ unter zinā mit einem ḥadīṯ: „Wenn ein Mann in einen Mann eingeht, sind beide zānīs.“
Postklassische Juristen – liwāṭ am eigenen Sklaven III
Ein Abschnitt von Ibn Qaiyim al-Ǧauzīyas (gest. 752/1350) aṭ-Ṭuruq al-ḥikmīya fi s-siyāsa aš-šarʿīya[130] ist nicht nur für das liwāṭ-an-Sklave-Problem von Interesse; es behandelt auch ein selten in fiqh- Werken abgehandeltes Tun: Vergewaltigung von Männern. Er schreibt:
a. Selbst bei Todesdrohung darf ein Mann sich nicht penetrieren lassen. (Tod ist verglichen mit dem Schaden, den Penetriert-Werden für Seele und Körper verursacht, das kleinere Übel.)
b. Der mit Vergewaltigung Bedrohte darf den Bedroher töten, ohne Strafe im Dies- oder Jenseits fürchten zu müssen. Dies gilt auch für den Sklaven, der seinen Herren tötet. Wer beim Versuch, den Vergewaltiger zu töten, bzw. beim Sich-der-Vergewaltigung-Widersetzen umkommt, ist ein Märtyrer.
c. Wer seinen Sklaven vergewaltigt, darf ihn nicht behalten: der Sklave darf weglaufen (dies gilt wohl auch bei tafḫīḏ – was mit au naḥwahū gemeint sein muß), der Sklave wird freigelassen, oder er wird verkauft.
Moderne
Das neuzeitliche ḥambalitische Recht ist von besonderem Belang, da es in Saudi-Arabien angewandt wird. Dabei kommt dem Dalīl aṭ-ṭālib li-nail al-maṭālib von Marʿī b. Yūsuf al-Karmī al-Maqdisī (gest. 1033/1624) große Bedeutung zu.[131]
Der wahhābitische qāḍī Ibrāhīm b. Muḥammad b. Salīm Ibn Dūyān (gest. 1353/1934) schrieb dazu einen Kommentar: Manār as-sabīl fī šarḥ ad-Dalīl: „‚*Lutete jemand‘ (Marʿī) Knaben, wäre die ḥadd-Strafe obligatorisch …: Steinigung in jeden Fall …“ d.h. unabhängig davon, ob muḥṣan oder nicht.[132]
Weiter schreibt Marʿī: „Damit die ḥadd obligatorisch wird, müssen drei Bedingungen erfüllt sein: 1. Eindringen der Eichel oder von Gleichviel in die Vagina oder den Anus einer lebenden Person. …“[133] Der Mann der Praxis, der qāḍī Ibn Dūyān, läßt also ganz selbstverständlich liwāṭ an der Ehefrau weg – weil damit kein Richter belästigt wird (?) – und ebenso liwāṭ an erwachsenen Männern – weil es das nicht gibt (?).
NOTEN
[71] „Klassisches islamisches Recht“ im
Handbuch der Orientalistik, Erste Abteilung, Ergänzungsband III (Hg. Spuler), S. 234.
[72] Übers. G. Endreß,
Der Islam I, Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag, 1968 (Fischer Weltgeschichte Bd. 14), S. 133f. Die wohlwollende Lesart, nach der Cahen die Freiheit nicht rechtlich, sondern gesellschaftlich meine, läge näher, wenn er statt von der „Freiheit des Mannes, Verbindungen mit Sklavinnen einzugehen“ von der „Freiheit des Reichen“ schriebe und statt von „homosexuelle(n) Beziehungen“ von „päderastische(n)“.
[73] Histoire de l’organisation judicaire en pays d’islām, Leiden: Brill, 21960, S. 611: « La castration était ordinairement infligé aux auteurs de délits contre les mœurs. » – Hans-Heinrich Jescheck: „Islamisches und westliches Strafrecht“ in
Festschrift für Dietrich Oehler (Hg. R. D. Herzberg) Köln usw: Heymanns, S. 545: „Unzucht im islamischen Sinne ist jeder außereheliche Geschlechtsverkehr.“
[74] Leipzig: Dyk, 1885, S. 34f.
[75] L.W.C van den Berg:
De Beginselen van het Mohammedaansche recht, volgens de imām’s Aboe Hanīfat en asj-Sjāfeʾī, Batavia: ’s Gravenhage, 1874.
[76] „Die Todesstrafen des islamischen Rechts“ in
Bustan, Wien, 1962, Nr 4, S. 11.
[77] muḥṣan ist hier eine voll-strafmündige Person, d.h. volljährig, zurechnungsfähig und insbesondere „einen legalen Beischlaf hinter sich habend“; die übliche Übersetzung mit „verheiratet“ ist dreifach ungenau: der Verheiratete, der die Ehe nicht vollzogen hat, ist nicht
muḥṣan, während der Nicht-Mehr-Verheirate (Witwer oder Verstoßer), der eine Ehe wenigstens einmal vollzogen hat, und der Vaginal-Beschläfer einer Sklavin, die ihm gehörte oder ihm überlassen war,
muḥṣan sind, ohne verheiratet zu sein.
(Nachtrag: Die 12er Schiʿiten definieren wirklichkeitsnäher: Nur wer eine Ehefrau oder Sklavin bei sich hat – nicht weiter als eine Siebentagereise entfernt – ist dadurch vor Sünde gesichert, muss, wenn er sie trotzdem begeht, härter bestraft werden. – Das Oberste Gericht des Sudan hat
muḥṣan ebenfalls an die reale Möglichkeit zu legalem Geschlechtsverkehr gebunden. )
[78] Tunis: Soc. Anonyme de l’Imprimerie Rapide, 1926, S. 95.
[79] Nach Erscheinen des „red.“ gezeichneten Artikels fragte ich Pellat, ob mehrere Autoren dazu beigetragen hätten, oder ob er der Autor sei. Er bekannte sich unumwunden als alleiniger Autor.
[80] Paris, 1983, S. 783; Leiden, 1983, S. 777.
[81] J. Schacht (Hg.):
G. Bergsträsser’s Grundzüge des islamischen Rechts, Berlin: de Gruyter, 1935, S. 99.
[82] J. Schacht:
An Introduction to Islamic Law, Oxford: Carendon, 1964, S. 178.
[83] Daß die späten Ḥanafiten dem
qādī weit mehr Freiheit geben, bleibt bei der Übersetzung unberücksichtigt, da sonst das „at least“ fehl am Platze wäre.
[84] E. Heffening:
Ḥanafiten in
1EI.
[85] o. O. [Lahna], 1310/1892, S. 78.
[86] Saraḫsī:
Mabsūṭ IX S. 77.
[87] Badāʾiʿ aṣ-ṣanāʾiʿ, al-Qāhira: Maṭbaʿat al-Imām, S. 4151f.
[88] Charles Hamilton, der dieses für das britisch-hanafitische Recht so wichtige Werk im Auftrag des Generalgouverneurs von Bengalen übersetzte, irrt, wenn er schreibt: „If a man copulate with a strange woman in ano—(
that is, commit the act of sodomy …“ (S. 185). Richtig heißt es: „Wer eine Frau im hassenswerten Ort beschläft
oder das Tun der Leute Lots tut …“ Es werden also mann-weiblicher und mann-männlicher Analkoitus zusammen abgehandelt, der Begriff „das Tun der Leute Lots“ steht aber – anders als
liwāṭ, liwāṭa und
lūṭiya – nur für den mann-männlichen Akt.
[89] Al-Hidāya, Calcutta, 1234/1818, S. 376; Übers. Charles Hamilton (nach der pers. Fassung Ġulām Yahyā von 1190/1776), London, 1870, S. 185; im Kommentar des Ibn al-Humām mit abgedruckt, IV S. 151.
[90] İstanbul, 1836, S. 99.
[91] Kamāladdīn Muhammad b. ʿAbdalwāhid b. ʿAbdalhamīd b. Masʿūd Ibn al-Humām as-Sīwāsī:
Fath al-qadīr, IV S. 150–152.
[92] Adel El Baradie:
Gottes-Recht und Menschen-Recht, Baden-Baden: Nomos, 1983, S. 79.
[93] Baber Johansen: „Eigentum, Familie und Obrigkeit im Hanafitischen Strafrecht“ in
Die Welt des Islams XIX, 1979, S. 46; jetzt auch in B. Johansen:
Contingency in a Sacred Law, Leiden: Brill, 1999, S. 394.
[94] ebenda, S. 58 bzw. S. 406.
[95] Da im osmanischen Reich der
qādī Organ der staatlichen Rechtspflege war, sei kurz auf die Bestimmungen des osmanischen
qānūn verwiesen. Uriel Heyds:
Studies in Old Ottoman Criminal Law (Oxford: Claredon, 1973), S. 61, 63, 64, 100, 102, 103: 19: Auspeitschung und Geldstrafe für Küssen eines Jungen, 27: Auspeitschung und Geldstrafe für Sich-Beschlafen-Lassen; beim Minderjährigen: des Vaters, 32: Geldstrafe für den verheirateten
lūṭī, 33: eine geringere Geldstrafe für den unverheirateten
lūṭī, 34: Auspeitschung und Geldstrafe fürs *Luten der Ehefrau, 35: Geldstrafe für Jungs, die es miteinander treiben.
[96] Ibn al-Humām: Fath al-qadīr, IV S. 150. Merkwürdig, daß sowohl Johansen als auch El Baradie, obwohl sie beide immer wieder Ibn al-Humām heranziehen, dies erst für den 400 Jahre späteren Ibn ʿĀbidīn (gest.1252/1856) feststellen; El Baradie schreibt in
Gottes-Recht, S. 150f.: „Da diese Lehre es als unzulässig ansieht,
hadd-Strafvorschriften analog anzuwenden, gilt bei ihr z.B. die Päderastie vom
muḥṣan als
hadd-(Unzucht-)ähnliches Delikt. … Nach dieser Lehre ist die Anwendung der Todesstrafe in diesen und ähnlichen Fällen nicht zwingend und erfolgt nur bei gleichartigem Rückfall. (Ibn ʿĀbidīn:
Takmilat Radd al-muhtār ʿala d-Durr al-muḫtār, 2. Aufl., al-Qāhira, 1966, IV S. 62ff.)“ Johansen schreibt: „ … schon Ibn al-Humām (gest. 861/1457) läßt … die Todesstrafe in der Verfolgung von ‚Zauberer(inne)n‘ zu … Späte Kommentatoren, wie Ibn ʿĀbidin, leiten aus dem oben zitierten Satz [Im taʿzīr ist nichts festgelegt.] einen fast uneingeschränkten Ermessensspielraum des Richters ab. Ibn ʿĀbidīn … (will) den rückfälligen Homosexuellen [sic] (mit dem Tode bestrafen)“. „Eigentum, Familie und Obrigkeit im Hana fi tischen Strafrecht“, S. 58.
[97] Ibn ʿĀbidīn:
Radd al-muhtār, Miṣr, 1272/1855, III S.147 = al-Qāhira, 1307/1890, III S. 160 = Bulāq: Amīrīya, 1324/1906, III S. 152f. = al-Qāhira 21966, IV S. 14f.
[99] Miṣr: Muhammad Asʿad, 1330/1883, S. 360.
[100] Ibn ʿĀbidīn:
Radd al-muhtār, Miṣr, 1272/1855, III S.155 = al-Qāhira, 1307/1890, III S. 170 = Bulāq: Amīrīya, 1324/1906, III S.160 = al-Qāhira 21966, IV S. 28.
[102] Alger: Editions Populaires de l’Armée, 81980, S. 254.
[103] al-Qāhira: Makṭabat ʿAbbās b. Šaqrūn, 1904, S. 270.
[104] Übers. Omar A. Farrukh
: Ibn Taimīya on Public and Private Law in Islam, Beirut: Khayats, 1966, S. 119; Übers. Henri Laoust;
Le traité de droit public …, Beyrouth: Institut Francais de Damas, 1948, S. 107.
[105] Ḫalīl, Übers. Bousquet:
Abregé de la loi musulmane selon le rite de l’Imâm Mâlik, Alger: Maison des livres, 1958, S. 47.
[106] In
Chréstomatie persane I, Hg. Charles Henri Aug. Schefer, Paris: E. Leroux, 1863, S. 154; erwähnt von Louis Massignon:
La Passion d’al-Hosayn Ibn Mansour al-Hallaj, Paris: Geuthner, 1922, S. 797 =
La Passion de Husayn Ibn Mansûr Hallâj, Paris: Gallimard, 1975, III S. 254.
[107] Ibn Falīta:
Rušd al-labīb ilā muʿāšarat al-habīb, Hg./Übers. Mohamed Zouher Djabri, Diss. Med. Erlangen-Nürnberg, 1968, S. 14.
[108] Fath al-Qadīr, IV S. 150.
[109] al-Ḥaṣkafī:
ad-Durr zus. mit Ibn ʿĀbidīn:
Radd al-muhtār, Miṣr, 1272/1855, III S.155 = al-Qāhira, 1307/1890, III S. 170 = Bulāq: Amīriya, 1324/1906, III S. 160 = al-Qāhira, 21966, IV S. 27.
[110] Mafāṭīh al-ġaib, al-Qāhira, 1352/1933, XIV S. 170.
[111] „Wollt ihr denn etwas Abscheuliches begehen, das noch kein Mensch vor euch begingö“
[112] Stuttgart: Spemann, 1897, S. 809.
[114] al-Qāhira, 1302/1885, II S. 170.
[115] Übers. Bousquet:
Kitāb et-tanbīh ou Le livre de l’admonition, Paris: La Maison des livres, 1959, S. 52.
[116] Ḏamm al-liwāṭ, al-Qāhira, 1990, S. 76. – Thomas Bauer, dessen „literatur- und mentalitätsgeschichtliche Studie des arabischen Ġazal,“
Liebe und Liebesdichtung (Wiesbaden: Harrassowitz, 1998) Hervorragendes zur Aufarbeitung des Homoerotischen leistet, begeht hier einen Fehler. Er schreibt: „der Begriff
liwāṭ [hatte] im religiösen Schriftum eine andere Bedeutung als in der übrigen Literatur […]. In juristischer Terminologie wird
liwāṭ definiert als
ityānu r-raǧuli r-raǧula, d.h. als ‚Verkehr eines Mannes mit einem anderen Mann‘ (Āǧurrī, S. 22). … Im allgemeinen Sprachgebrauch ist
liwāṭ aber keineswegs jeder Verkehr zwischen Personen männlichen Geschlechts.“ (S. 165f.) In der Bewertung (Verurteilen beider Parteien) weichen die Juristen zwar vom Üblichen ab, nicht aber in der Terminologie. Solche Fehler erweisen die Notwendigkeit, von „Koitieren eines Mannes“ statt vom „Koitus/Verkehr mit einem Mann“ zu sprechen. Wo im Arabischen ein Akkusativobjekt steht, sollte auch auf deutsch eins stehen – auch wenn es unschön klingt.
[117]
Hg./Übers. Simon Keijzer:
Précis de jurispridence musulmane, Leiden: Brill, 1859, S. 37; ebenda, Übers., S. 50.
[118] Hg./Übers. L. W. C. van den Berg, Leiden: Brill, 1894, S. 574–77
[119] Hg./Übers. van den Berg, Bd. III, Batavia: Imprimerie du Gouvernement, 1884, S. 211.
[120] Van den Berg übersetzt unpräzise: « Le crime [sic] de fornication consiste dans l’introduction de la verge dans le vagin d’une femme avec laquelle on n’a point le droit d’exercer le coït … Ce crime méri te [sic] la peine afflictive et défi nie, laquelle peine est applicable aussi, selon notre rite, à celui qui a introduit sa verge dans le
podex d’un homme ou d’une femme. » G. H. Bousquet, der 1959 eine Liste
Corrections proposées aux traductions par v. d. Berg de textes châféʿîtes veröffentlichte (Bibliothèque de la Faculté de Droit de l’Université d’Alger XV), fi el hier kein Fehler auf. Im Original steht aber gerade nicht, daß ‚auf Einführen in einen männlichen oder weiblichen anum
hadd steht‘ , sondern daß diese beiden der Vagina gleichgestellt sind
(wa-dubr … ka-qubul), daß also
hadd auf dem Einführen des Penis in
den
dubr muharramin li-ʿainihi steht.
[121] al-Qāhira, 1324/1906, III S. 18.
[122] Wohl al-Ḥusain b. Muhammad al-Marwarrūdī (gest. 462/1070):
Tālīqa.
[123] Vielleicht Abu l-Mahāsin ʿAbdalwāhid ar-Rūyānī (gest. 502/1108):
Bahr al-Maḏhab.
[124]Kāmil fi t-taʾrīḫ, Hg. Carolus Johannes Tornberg, Leiden: Brill (14 Bde.) VIII, 1862, S. 230.
[125] Adam Mez:
Die Renaissance des Islams, Heidelberg: Winter, 1922, S. 230.
[126] Im Gegensatz zu al-Ḫalīl, der es zwar als
zinā definiert, aber eine andere rechtliche Behandlung vorsieht. (Vgl. S. 80.)
[127] Kitāb al-ʿumda fī ahkām al-fiqh, al-Qāhira: Maṭbaʿat as-Salafīya, 31382/1962, S. 556f.; Übers. Henri Laoust:
Le précis de droit d’Ibn Qudāma, Beyrouth: Institut Français de Damas, 1970.
[128] Henri Laoust übersetzt 1950 prüder und wertender als das Original: « dans des conditions normales ou contre nature », den ersten Satz über
qaḏf: „wa-man ramā bi-zinan au šahida ʿalaihi bihī …“ mit: « Quiconque accuse un homme [sic] dit
muḥṣan de fornication ou
de sodomie, ou témoigne contre lui du délit de fornication ou de sodomie … ». Was die Übersetzung an Klarheit gewinnt, verliert sie an Auslegbarkeit und Allgemeinheit.
[130] al-Qāhira, 1317/1899, S. 54.
[131] I. Goldziher im vorletzten Absatz seines
1EI-Artikels
Ahmad b. Ḥanbal; sowie George M. Baroody
: Crime and Punishment under Islamic Law, Cairo, 1961;
2Oxford: Regency Press, 1979, Vorwort.
[132] Makka: Maktabat at-Tiǧārīya, 1996, S. 1128; Ubers. George M.Baroody, a.a.O., S. 63.
[133] a.a.O., S. 1129: a.a.O., S. 64.