Arno

liwāṭ im fiqh 06 ‒ Folgerungen

In Geschichte, Homosexualität, Islam, Männer, Muslime, Recht, Soziologie on 14.Januar 2010 at 09:55

PLICHTENLEHRE ODER PRAKTIZIERTES RECHT

In den islamischen Reichen war die šarī ʿa nicht bloß Pflich­ten­lehre, aber auch nicht das allein ange­wandte Recht: sie war „the law of the land“, teils un­mit­tel­bar wirk­sam, teils die ge­samte poli­tisch-gesell­schaft­liche Ord­nung legi­ti­mie­rend. Chafik Che­hata unter­schätzt ihren Gel­tungs­bereich, wenn er sie als „Pri­vat­recht“ (Fami­lien-, Ehe- und Erb­recht sowie Ver­mögens- und Trans­aktions­recht) be­zeich­net. Johan­sen stellt fest: „Das Straf­recht wird schon früh den qāḍīs weit­gehend ent­zo­gen und den kon­kur­rie­ren­den Ge­richts­bar­kei­ten des ṣāḥib al-maẓālim, des muḥ­tasib, des ṣāḥib aš-šurṭa und des ḥāǧib unter­stellt.[189] Unter den Osma­nen kommt es prak­tisch zu einem welt­lichen Straf­recht, das in eige­nen Samm­lun­gen schrift­lich vor­lag, und das anzu­wen­den die Richter ver­pflich­tet waren.[190] … Es ist also richtig, fest­zuhal­ten, daß das Straf­recht der šarīʿa meistens kein prak­ti­zier­tes Recht war, ob­wohl es im­mer wie­der – bis in die Gegen­wart – Ten­den­zen ge­geben hat, es gegen ab­wei­chen­de Rechts­for­men durch­zu­setzen …[191] Dies unter­schätzt zwar die prak­tische Be­deu­tung der šarīʿa im osma­ni­schen Reich, des­sen qawā­nīn das šarīʿa-Straf­recht weit­gehend intakt lie­ßen und das die Po­si­tion des qāḍī stärkte – ihn gleich­zei­tig in ein staat­li­ches Justiz­wesen ein­bin­dend –, ist je­doch zu­mindest für den Gegen­stand dieser Arbeit richtig.

Kresmárik nennt den ḥudūd-Teil der šarīʿa „Selbst­justiz“,[192] was Johan­sen so über­setzt: „das Recht der ḥudūd [ist] so be­schaf­fen, daß es nur die Be­stra­fung des­jenigen erlaub[t], der die Strafe auf sich nehmen will.“ Dies gilt ganz be­son­ders für liwāṭ, da es – auch nach Auf­fas­sung vieler Juristen [193] – das klassische Ver­bre­chen ohne Opfer ist. Während Dieb­stahl und Straßen­raub Eigen­tum und Leben ver­letzen und zinā zu Unklar­heiten bei der Ab­stam­mung führen kann und die Ehre der Ur­sprungs­familie der Frau und/oder die Rechte ihres Ehe­manns an seiner Frau ver­letzt, wird bei liwāṭ weder ein Hymen ver­letzt, noch besteht die Gefahr einer Schwan­ger­schaft. Weniger die Tat als ihr Ruchbar-Werden schadet.

Im Gegensatz zum modernen bürger­lichen Recht, dessen Würde auf allgemeiner, gleicher An­wen­dung beruht, ver­langt das ḥudūd- Recht nicht die Auf­spürung und über­füh­rung aller Täter: es beruht nicht auf ex­ten­siver Anwen­dung (damit ‚crime doesn’t pay‘ auch ge­glaubt wird), sondern auf exem­plari­scher (die Drohung erneuernder) Exekution. Denn „Gott ist erhaben darüber­, daß ihm ein Mangel anhaften könnte, so daß er in seinem Rechtsanspruch des Aus­gleichs bedürfte.[194]

Die Unerbittlich­keit der Strafe, wenn einmal alle Beweis­hürden über­wunden sind, die Unmög­lich­keit der Be­gna­di­gung oder Ver­rin­gerung der Strafe auf­grund ‚mildern­der Um­stände‘ weist auf den sakralen Charak­ter der šarīʿa. „Denn in der Aus­übung der Gewalt über­ Leben und Tod bekräftigt … das Recht sich selbst.[195]

Die šarīʿa weist für sariqa und muḥāraba[196] fünf – für zinā (und liwāṭ) sechs – Vor­keh­run­gen auf, die Zahl der Ver­ur­tei­lungen gering zu halten:

1. šubha = juristi­sche Vor­behalte, prozeß­recht­liche Bestim­mungen, die den Beweis meist unmöglich machen.[197]

2. Die Zeugen müssen männ­liche, unbe­scholtene, freie, sehende mus­limi­sche Augen­zeugen der Tat selbst sein; die beiden Täter allein in einem Raum zu wissen und ‚ein­deutige‘ Geräusche zu hören reicht nicht. (Juden, Christen, Blinde und Frauen sind – anders als Schwach­sinnige, Minder­jährige und übel Beleu­mun­dete – nicht in allen Pro­zessen von der Zeugen­schaft aus­ge­schlos­sen.) Und wenn vier er­wach­sene Muslime die Tat so genau und deut­lich ge­sehen haben, wie es das Prozeßrecht vor­schreibt, sind sie eigentlich immer in der Lage, die Tat zu ver­hin­dern, wozu sie ver­pflich­tet sind (ḥisba).

3. Die Zeugen müssen selbst vor dem Richter in ein und der selben Ver­handlung aus­sagen. Die schriftlich bestätigte Aus­sage vor einem anderen Richter wird – anders als in Zivil­rechts­fragen – nicht aner­kannt.

4. Die Zeugen müssen un­mittel­bar nach der Tat diese anzeigen. Tun sie dies nicht, müssen sie schweigen.[198]

5. qaḏf = Bestrafung unbewiese­ner Anschul­di­gung – nicht etwa erwie­sen falscher An­schuldi­gung – von zinā (und liwāṭ). Es han­delt sich um eine ḥadd–Strafe beruhend auf XXIV 4 „Die­jenigen, die ehr­bare Frauen in Verruf bringen und dar­auf­hin keine vier Zeugen bei­brin­gen, ver­ab­reicht ihnen 80 Hiebe und nehmet nie (mehr) eine Zeu­gen­aus­sage von ihnen an! Sie sind Frevler.“ (Paret) Vgl. auch XXIV 23–25.[199]

6. Dem Beschuldig­ten darf kein Schwur zur Beteue­rung seiner Unschuld auferlegt werden.

Neben den prozeduralen Schutz­vor­schrif­ten gibt es moralische:

1. satr (Verhüllen): „Wer (die Sünden) seines Nächsten in dieser Welt be­deckt, dessen Sünden wird Gott am Jüngsten Tag be­decken.“ Dieser ḥadīṯ findet sich in Muslims Saḥīḥ,[200] und Abū Zakarīyāʾ Yaḥyā an-Nawa­wī (gest. 676/1277) hat es in seine viel ge­lesene Samm­lung Riyāḍ aṣ-Sāliḥīn auf­ge­nom­men.[201]
Ein anderer von Muslim, Buḫārī und Nawawī gebrachter ḥadīṯ lautet: „Allen meinen Leuten wird ver­geben, außer denen, die Sünden auf­decken, auch ihre eigenen, die sie nachts be­gangen haben und die Gott zuge­deckt hat. … Des Nachts be­deckte Gott es, und er zer­reißt am Morgen Gottes Decke![202]

Ähnlich Mālik: Muwaṭṭaʾ: „Wer etwas von diesen schmu­tzi­gen Dingen be­geht, der soll sich mit Gottes Decke bedecken![203] Nach Mālik auch bei Buḫārī, Buch 41, ḥadīṯ 12,[204] und aus­führ­licher als 2. Spruch des 41. Buches: „Mālik berich­tete mir von Yaḥyā b. Saʿīd nach Saʿīd b. al-Musaiyab, daß ein Mann vom Stamme der Aslam zu Abū Bakr kam und sagte: „Ich habe gehurt.“ Abū Bakr sagte ihm: „Hast du dies schon jemand anderem ge­sagtö“ Er sagte: „Nein“. Abu Bakr sagte ihm: „Dann … verberge es mit dem Schleier Gottes. Gott nimmt die Reue seiner Sklaven an.[205] Noch nicht beruhigt ging der Sünder zu ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb, der ihm die gleiche Auskunft gab. Schließlich ging er zum Pro­pheten, der ihn drei­mal weg­schickte. Mālik berichtet weiter, daß der Prophet einem der Stammes­ge­nos­sen des Mannes sagte: „Ihr hättet besser daran getan, ihn mit einem Mantel zu bedecken.[206]

2. das Verbot zu spionieren und

3. das Verbot übler Nachrede:

XLIX 12 Und spioniert nicht und sprecht nicht hintenherum schlecht von­ein­ander!

XXIV 19 Diejenigen, die wünschen, daß etwas Abscheuliches über­ die Gläubi­gen allgemein bekannt wird, haben eine schmerzhafte Strafe zu erwarten – im Diesseits wie im Jenseits. (nach Paret)

Nawawī bringt folgenden ḥadīṯ nach Muslim:

Hütet euch vor Ver­dächti­gungen; sie sind Falsch­heit. Sucht nicht nach den Fehlern der andern und spio­niert nicht unter­ein­ander und beneidet euch nicht … Ein Muslim dem ütigt keinen Muslim, noch ver­ach­tet er ihn. Einem Muslim ist alles un­antast­bar, was eines Muslims ist: sein Blut, seine Ehre, sein Eigen­tum … [207]

Wer also anklagt, läuft nicht nur Gefahr wegen Ver­leumdung bestraft zu werden, setzt sich nicht bloß dem Verdacht aus, zugeschaut zu haben, statt es zu verhindern, er handelt auch un­mora­lisch.

Schließlich soll der qāḍī nicht alles daran setzen, das Ver­gehen aufzu­decken, er soll sogar Gestän­dige auf mög­liche Täuschung hin­weisen. Ist er von einer Tat über­zeugt, soll er nicht ver­suchen, den Beweis zu erbringen, son­dern den Täter er­mah­nen – bei ange­sehe­nen Leuten kann das so be­hut­sam erfolgen, daß er sie weder zu sich kommen läßt, noch sie durch einen Besuch kom­promit­tiert, sondern ihnen diskret eine Bot­schaft über­mitteln läßt.[208] Daß kein Übeltäter der dies­seiti­gen Strafe entkommt, ist also nicht die Sorge der fuqahāʾ.

Die Gültigkeit der šarīʿa und virtuelle Voll­zieh­bar­keit der Strafen reicht voll­auf; diese legitimato­rische, quasi-religiöse Funktion des Rechts kann durch zweierlei gestört werden:

a. durch offenes, unverschämtes über­treten des Ver­bots, durch unge­straftes Nicht-Leugnen eines (allge­mein bekann­ten) Tuns, weil dies die Straf­drohung untergräbt,

b. durch Infrage-Stellen des Ver­boten-Seins des Ver­bo­tenen und des Ge­boten-Seins des Gebotenen.

Wer gegen die Verbote verstößt, dies aber be­streitet, be­kräftigt hingegen durch sein Leugnen die Gültigkeit des Verbots; solch deviantes Verhalten wird toleriert.

Wer sich non-konfor­mistisch verhält, sich also um ein Gebot oder Verbot der Gesell­schaft ein­fach nicht kümmert, sich darüber­ hinweg­setzt, es sozusagen „für sich außer Kraft setzt“, ohne seine all­gemeine Gültig­keit anzu­greifen, wird meist in Frieden gelassen. Wer jedoch gegen das Gesetz re­belliert, seine Gültig­keit bestreitet, muß zur Raison ge­bracht werden. Denn „der ist ein Ungläubi­ger, der etwas erlaubt, was in der Religion des Pro­pheten ver­boten ist, wie die Ver­wandten zu heiraten, die man nicht heiraten soll, oder das Wein­trinken oder das Essen von … Schweine­fleisch außer in Notfällen. Diese Dinge zu
be­gehen, ohne sie zu er­lau­ben,
ist Sünde (fisq). (Jedoch sie) zu erlauben ist Unglauben (kufr)“,[209] worauf die Todes­strafe steht. Grund­lage hierfür IX 29: „Bekämpft diejenigen, die nicht an Gott und den Jüngsten Tag glauben, und nicht für ver­boten erklären, was Gott und sein Gesandter für ver­boten erklärt haben.“

Rechtspraxis

Da das islamische Recht mit devianten Übeltätern ‚leben kann‘, blieben sie meist am Leben. Dies kann man nicht nur an der Spärlichkeit der Berichte über­ Hinrichtungen von lūṭīs und *Geluteten ablesen, sondern auch am langen Leben von als lūṭīs bekannten Dichtern wie Abū Nuwās und Herrschern wie Amīn (Bagdad), Ibrāhīm (Tunis) oder ʿAbdal­malik (Cordoba). Eine Stelle bei Ibn Ḫallikān halte ich für auf­schlußreich, weil sie er­ken­nen läßt, daß die Juristen solche Men­schen am Leben ließen: Es heißt dort über­ Abū ʿUbaida Maʿmar b. al-Muṯannā, daß kein ḥākim ihn als Zeugen zuließ, weil er der Knaben­liebe (mail ila l-ġilmān) verdächtigt wurde.[210] Die in den Sexual­hand­büchern vor­kommen­den lūṭīyūn und *Geluteten scheinen sich wenig Sorgen um mögliche Bestra­fung gemacht zu haben.

Auf­schlußreich ist auch eine Bestimmung im šīʿitischen Eherecht, nach der „der Männ­liche, welcher mit einem Männ­lichen Geschlechts­verkehr hatte, weder dessen Mutter, noch dessen Schwester oder Tochter hei­raten kann.[211] Ganz ähn­lich bei Ibn Ḥam­bal: lau lāṭa bi-ġulāmin, ḥurrimat ʿalaihi ummuhū wa-bintuhū. [212]

Im Licht solcher Bestimmungen kann sich eine Stelle des Ḥana­fi­ten Ibn ʿĀbidīn auch auf Verkehr mit Männ­lichen beziehen: „über­ die liwāṭa gibt es noch andere Regelun­gen: Bei ihr ist der mahr nicht nötig, noch die ʿidda, wie beim ungültigen nikāḥ oder beim Koitus mit šubha. Noch macht sie die Frau für den ersten Ehe­mann ḥalāl. Noch wird durch sie die Wieder­ver­heira­tung mit der geschie­denen Frau voll­zogen. Noch gilt das Heirats­verbot durch Ver­schwägerung – zumindest nach der Meinung der meisten! …[213]

Sogar die moral-strenge ḥisba-Litera­tur bietet Belege für die Tendenz, nicht in Schlaf­zimmern, Stun­den­hotels etc. zu spionie­ren. Ibn ʿAbdūn schreibt Anfang des 12. Jahr­hun­derts westl. Kalenders: „Die Lust­knaben (al-ḥiwā, sg. al-ḥāwī) sollen aus der Stadt ver­trieben werden. Die­jenigen, die man danach noch antrifft, wer­den bestraft. Man darf sie sich nicht unter Mus­limen bewegen lassen, noch an Festen/Hoch­zei­ten teil­neh­men lassen, da sie Unzucht (zinā) treiben und von Gott und den Menschen verflucht sind.[214] Die For­derung dieser Mora­listen war Ver­bannung; in der Rea­lität werden Lust­knaben auf Hoch­zeiten getanzt haben.

ZUSAMMENFASSUNG

Der Qurʾān verbietet liwāṭ, setzt aber keine Strafe fest.

Die fuqahāʾ stellen ihn unter Strafe, machen aber den Vollzug der Strafe vom Geständ­nis abhängig.

Die Gesellschaft duldet ihn, solange es diskret geschieht.

Das islāmische Recht weist nicht nur zur Praxis, sondern auch zu den Normen der islāmi­schen Gesell­schaft große Dif­feren­zen auf: Während das Recht liwāṭ an einem Männ­lichen kate­go­risch unter Strafe stellt, haftet dem ‚Aktiven‘ gesellschaft­lich kein Makel an. Aus Rücksicht auf den *Geluteten und/oder auf das islāmische Recht wird jedoch Diskretion erwartet.

Im Vergleich zum alten Griechenland, in dessen Ober­schicht Päd­erastie Institution war,[215] wird deutlich, daß sich die Gesell­schaft durch das nominelle Ver­bot der Möglichkeit be­gibt, formend zu wirken: Wo ein Verhalten ins Halb­dunkel gedrängt wird, wo Sex zwischen Männ­lichen nicht Teil eines Ver­hal­tens­ensembles mit Gesellig­keit, Unter­weisung, kulturellen und sport­lichen Veran­staltun­gen ist, wo die Familie eines jugend­lichen Partners davon nichts erfahren darf, ist die Gefahr der Reduktion auf das Sexuelle größer.

Wie kam es zu diesem Aus­einander­klaffen von gesell­schaft­licher Praxis und šarīʿa: Warum stell­ten die fuqahāʾ liwāṭ unter Strafe, obwohl sie das nach dem Heili­gen Buch nicht zu tun brauchten?

Es könnte daran liegen, daß die fuqahāʾ alles andere als einen Quer­schnitt der muslimi­schen Be­völ­kerung bildeten. Die fuqahāʾ und ahl al-ḥadīṯ (Mālik b. Anas und Aḥmad b. Ham­bal gehören zu beiden) heben sich nicht nur von der Masse der kleinen Leute und Bauern ab, sie können auch von den im Weltlichen Ton­an­ge­ben­den unter­schie­den werden: sozio­logisch (dem Stande nach), psycho­logisch (nach Tem­pera­ment und Nei­gung) und ethno­logisch (der Herkunft nach):

1. Die fuqahāʾ haben meist ein bürgerliches Umfeld, sie oder ihre Ver­wand­ten sind wie S. D. Goi­tein[216] und H. J. Cohen[217] gezeigt haben Händler und Hand­werker – das Leben der Bürokraten (kuttāb ), der Literaten und Hof­dichter und des Militärs ist ihnen relativ fremd.

2. Die fuqahāʾ inter­essieren sich anders als Über­setzer und Medi­ziner, Philo­so­phen und Gnosti­ker, und auch manche Theo­logen und Mysti­ker wenig für die hellenistisch-städti­sche Kultur.

3. Die fuqahāʾ und ahl al-ḥadīṯ sind arabischer[218] als die Literaten, Philo­logen und Sekre­täre (kuttāb); man findet sie eher in Medina, Kūfa oder Baṣra als in Damaskus oder Bagdad.

Übrigens gibt dieser Ansatz eine mögliche Erklärung für die relativ milde Haltung der frühen Ḥanafi­ten zu liwāṭ. Die Medi­nen­ser leb­ten nicht nur in größerer geo­graphi­scher Distanz zum (lockeren, wein­trinken­den) Hof, sie standen in einer gewis­sen Opposition zu ihm; das Verhältnis von Abū Yūsuf, immerhin – anders als Abū Ḥanīfa und aš-Šaibānī – ein „rich­tiger Araber“, zur welt­lichen Elite war ein ganz anderes.[219]

Nachdem das in privaten Zirkeln „gemachte“ Recht, als göttlichen Ursprungs anerkannt war, das zwar fortentwickelt wurde, aber als unabänderlich galt, und der Staat zum Wächter dieses Rechts erklärt worden war, mußten die lūṭīyūn sich anpassen. Während in Syste­men mensch­lich gesetz­ten Rechts ein solches Aus­ein­ander­klaf­fen von Rechts­empfinden und Gesetzes­text lang­fristig beseitigt wer­den muß, hat die muslimische Gesellschaft sich mit ihrem als unwandel­bar gedachten gött­lichen Recht zu arrangieren gewußt – durch Verstellung und Verhüllung seitens der Täter, sowie die Bereitschaft des Rechts, solch sündiges Tun nicht zu enthüllen.

NOTEN

[189] Emile Tyan: Histoire de l’Organisation Judi­ciaire en Pays d’Islam, Leiden: Brill, 21960, passim; Chafik Chehata: ƒEtudes du droit musulman: Application au Proche Orient, Paris, 1970, S. 10. Der Mufti ar-Ramli gebraucht für einen solchen nicht-qādī die Begriffe hākim as-siyāsa und hākim al-ʿurf.

[190] Uriel Heyd: Studies in Old Ottoman Criminal Law, S. 150–152, 177, 202.

[191] Baber Johansen: „Zum Prozeßrecht der ʿuqūbāt“ in ZDMG Suppl. III,1 (19. Dt. Orientalistentag), Wies­baden, 1977, S. 477f.; jetzt auch in B. Johansen: Contingency in a Sacred Law, Leiden: Brill, 1999, S. 421f.

[192] „Beiträge zur Beleuchtung des isla­mi­ti­schen Straf­rechts, mit Rück­sicht auf Theorie und Praxis in der Türkei“ in ZDMG LX, 1904, S. 106, 331 – Nebenbei macht diese eigen­artige Verwendung des Wortes klar, daß der gemeine Gebrauch falsch ist: Lynch-Mord ist keine Justiz an sich selbst, sondern ein Verbrechen an anderen.

[193] Ausnahme Ibn Qaiyim al-Ǧauzīya – vgl. S. 86.

[194] Saraḫsī: Mabsūṭ IX S. 36.

[195] Walter Benjamin: „Zur Kritik der Gewalt“ in Ein Lesebuch (Hg. R. Fellinger), Frankfurt: Suhrkamp, 1984, S. 115.

[196] Auch qaṭʿ aṭ-ṭarīq, per­s. hirba, auf türk. sāʿī bi-l-fasād auf­grund von V 32.

[197] B. Johansen: „Zum Prozeßrecht …“, bes. S. 481–485; Contingency in a Sacred Law, S.225–229.

[198] B. Johansen: „Eigentum, Familie und Obrigkeit im Hanafi­tischen Strafrecht“, S. 45; er gibt Stellen vo n Saraḫsī, Kasānī, Marġīnānī und Ibn ʿĀbidīn an.
[199] Dies gilt natürlich nicht bei denen, die für liwāṭ keine hadd-Strafe vorsehen.

[200] Bāb 21, hadīṯ 71 (2590).

[201] Bāb 28, Nr 240 in der CD-ROM von Dār al-Ḥadīṯ, Nr 242 in der über­setzung von Muhammad Zafrulla Khan: Gardens of the Righteous, London: Curzon Press, 1975, S. 60.
[202] Khan, 241 bzw. 243; Buḫārī, bāb 60, 5721; Muslim bāb 52, 2990.
[203] al-Qāhira, o.J., III S. 43, 44; zit. nach El Baradie, a.a.O., S. 207.
[204] 41.2.12: Mālik berichtete mir von Zaid b. Aslam, daß zu Lebzeiten des Gesandten Gottes ein Mann zinā gestand. Der Gesandte Gottes ließ eine [nicht zu harte] Peitsche kommen. … Nach Aus­peit­schung sagte er: „Die Zeit die Grenzen Gottes zu beachten, ist gekommen. Wer eines dieser schmutzigen Dinge (qāḏūrāt) tut, soll sie ver­schleiern mit Gottes Schleier (sitr). Wer sie uns (selbst) offen legt, an dem werden wir vollziehen, was im Buch Gottes festgelegt ist.“
[205] Erst nachdem er es ʿUmar b. al -Ḫaṭṭ ab und bei drei verschiedenen Gelegen­heiten dem Pro­pheten gesagt hatte, dieser in Erfahrung gebracht hatte, daß er geistig gesund ist und schon legalen Geschlechts­verkehr hatte, ließ er ihn steinigen.
[206] Buḫārī zweimal in Buch 41, Kap. 3
[207] Garden, S. 266, Kap. 269, 1575, Hervorhebung A.S; auf der CD vom Dār al-Ḥadīṯ, 1570; bei Muslim Buch 45, Kap. 28 (2563); bei Buḫārī zweimal in Buch 71 (5717, 5719) und einmal in Buch 77 (6345).
[208] Vgl. Māwardī (gest. 450/1058): al-Ahkām as-sulṭānīya, über­s. Fagnan: Les statuts gouverne­mentaux, Alger, 1915, S. 505f.; vgl. auch Uriel Heyds Studies in Old Ottoman Criminal Law, a.a.O., S. 63, 102. Nach dem welt­lichen osmanischen Recht wurde bestraft, wer einen Dieb nicht anzeigte. Bei Sitt­lich­keitsverbrechen wurde die Anzeige ausdrücklich nicht gefordert.
[209] Masʿūd b. ʿUmar at-Taftāzānī: Šarh ʿala l-ʿAqāʾid an-Nasafīya, a.a.O., S. 148; über­s. Earl E. Elder: A Commentary on the Creed of Islam, a.a.O.,
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[210] Wafayāt, Hg. Ihsān ʿAbbās, V S. 241; über­s. de Slane, III S. 395.

[211] Hier nach dem vor-‚revolutionären‘ Iranischen BGB § 1056; zit. nach Raphael Aghababian: Législation irānienne, Paris, 1951, II S. 90.

[212] Zit. nach Muhammad ʿ»d aš-Šāfiʿīs iḫtilāf-Werk: al-Manhaǧ aṣ-ṣūfī fi l-fiqh al-islāmī, al-Qāhira: Maṭābiʿ al-Ahrām at-Tiǧārīya, 1975, S. 196. – Im Buch Die Ehe, dem Kapitel Frauen, die erlaubt und die, die verboten sind, erwähnt Buḫārī einen Spruch, den der unzu­ver­läs­sige Yahyā al-Kindī nach aš-Šaʿbī und Abū Ǧaʿfar berichtet: „Wer mit einem Jungen rum­macht (yalʿab bi ṣ-ṣabī): wenn er es [das Glied] ihm reinsteckt, darf er seine Mutter nicht heiraten.“ Der Kommen­tar, der Ort und Mittel des Ein­dringens erklärt, weist auch auf die Parallelstelle bei Ibn Ḥam­bal.

[213] Radd al-muhtār, Miṣr, 1272/1855, III S.155 = al-Qāhira, 1307/1890, III S. 170 = Bulāq: Amīriya 1324/1906, III S. 160 = al-Qāhira, 21966, S. 28.

[214] Hg. E. Lévi-Provençal: « Un document sur la vie urbaine et les corps de métiers à Séville au début du XII siècle: le traité d’Ibn ʿAbdūn » in Journal asiatique , avril-juin 1934, S. 241; über­s. E. Lévi-Provençal: Séville musulmane au début du XII siècle: le traité d’Ibn ʿAbdūn…, Paris: Maisonneuve, 1947, S. 114; vgl. auch Abū ʿAbdallāh: Kitāb fī ādāb al-hisba, Hg./über­s. G.-S. Colin und E. Lévi-Provençal: Un manuel hispanique de hisba, Paris: Le Roux, 1931, S. arab. 68.

[215] Vgl. etwa K. J. Dover: Greek Homo­sexuality, London: Duckworth, 1978, und Peter Mason: The City of Men, Göttingen: Edition Herodot, 1984.

[216] Studies in Islamic History and Institutions, Leiden: Brill, 1968.

[217] “The Economic Back­ground and the Secular Occupa­tions of Muslim Juris­prudence, JESHO XIII, 1970.

[218] Vgl. Harald Motzki: “The Role of Non-Arab Converts in the Develop­ment of Early Islamic Law” in Islamic Law and Society VI, 1999, S. 293–317.

[219] Vgl. Christopher Melchert: “How Hanafism Came to Originate in Kufa …” in Islamic Law and Society VI, 1999.

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