Als die arabisch-islamischen Heere in weniger als 100 Jahren die Winterregenzone des Altwelttrockengürtels eroberten, führte dies nicht zu einem Bruch mit der etablierten hellenistischen Kultur. Arabien war schon hellenisiert – nicht nur die Vasallenreiche im Norden und der Jemen, auch die Handelsmetropole Mekka und die (teils jüdische) Oase Medina; andererseits waren Syrien und der Irak semitophon.
In den ersten prägenden Jahrhunderten lernte der Islam viel von den alten Kulturen des fruchtbaren Halbmonds, teils in übernehmender Auseinandersetzung mit den prophetischen Schwesterreligionen, in disputierender Abgrenzung, teils durch die Transfusionen der Konvertiten, die größtenteils den Islam nicht als das ganz Andere (deshalb demütig zu Erlernende) betrachtet haben mögen, sondern als die bessere, erneuerte Version ihres alten Glaubens – weshalb sie völlig unbefangen „Lücken“ im neuen Ideologiegebäude mit bewährtem Baumaterial füllten.
Die islamische Herrschaft brachte keine neue Wirtschaftsordnung. Der Ost-West-Handel wurde durch den Wegfall der byzantinisch-sassanidischen Grenze erleichtert. In Stadt und Land änderten sich die Produktionsverhältnisse kaum; von Sklaven bearbeitete Plantagen und staatlich betriebene (oder lizenzierte) Manufakturen blieben die Ausnahme. Die in verschiedenen Regionen stark unterschiedliche Landwirtschaft (Flußoasen, semi-aride Ebenen, Bergterrassen) und die ausdifferenzierte Handwerksproduktion der Städte bildeten die wirtschaftliche Grundlage. Rechtliche Änderungen am Landbesitz änderten wohl eher die Form der Abgaben (Steuern, Rente, Pacht) als deren Höhe.
Auch an den patriarchalen Geschlechterverhältnissen änderte sich wenig. Im öffentlichen Leben blieben die Männer weitgehend unter sich. Ehen kamen in der Regel durch Verträge unter Männern zustande, dabei waren die Frauen meist jünger, weniger gebildet und aus höchstens gleichrangiger Familie: dank ihrer realen Unterlegenheit war die offizielle Rangordnung selten in Gefahr. Die Ehe diente der biologischen und materiellen Erhaltung der Mannesfamilie, der Schaffung und Festigung von Bündnissen sowie der Triebabfuhr. Selten war sie das affektive und libidinöse Zentrum des Mannes; Mutter, Söhne, Pferde, Sklavinnen, Knaben und Freunde waren ihm oft wichtiger.
Oral-genitale Kontakte und Selbstbefriedigung waren verpönt. Geschätzt waren vaginaler und analer Koitus. Analog zur rangniedrigeren Frau war der penetrierte Mann, Jüngling oder Knabe – realiter und symboliter – unterlegen. Während Penetratoren mit ihren Eroberungen und Vergewaltigungen angeben konnten, war „es“ für Verführte und Vergewaltigte schändlich.
So wie in Nordeuropa die Kirchen alle außerehelichen Geschlechtsakte gleich stark verurteilen, gesellschaftlich jedoch außerehelicher Sex bei Frauen stärker geahndet wurde, so unterscheiden die Menschen des Mittelmeerraumes zwischen „erfolgreichem“ Penetrator und „schändlichem“ Penetrierten, obwohl die abrahamitischen Religionen jede geschlechtliche Handlung außerhalb von Ehe und Konkubinat verbieten: gleich ob allein, mit Tieren, Kadavern oder Geistern, ob mit Personen des eigenen oder des anderen Geschlechts, gleich ob „aktiv“ oder „passiv“.
Im Zentrum dieser Studie steht der Begriff liwāṭ, der bisher durchgehend mit „Homosexualität, Päderastie, Knabenliebe“ wiedergegeben wird, und dem von Orientalisten kaum Beachtung geschenkt wurde. Da auch die meisten Rechtshandbücher seine Bedeutung als bekannt voraussetzen und die Definitionen der Wörterbücher wenig hilfreich sind, muß erst der Begriff geklärt werden. Anschließend gebe ich einen Überblick über die relevanten Stellen in Qurʾān und Sunna, sowie Meinungen von Juristen der verschiedenen Schulen, wobei ich meist Werke aus den drei Perioden auswerte, in die seit Joseph Schacht und Ch. Chehata شفيق شحاتة einzuteilen üblich ist: die „präklassische“ der Formierung, die „klassische“ der Systematisierung, die „postklassische“ der Kommentierung.
Ich untersuche also nicht eine Periode oder einen maḏhab exemplarisch – ein Verfahren, das Verfasser und Leser verleitet, die Ergebnisse zu generalisieren –, sondern unternehme eine Sichtung des Terrains. Nebenbei ergibt sich eine Aufarbeitung des von Orientalisten zum Thema Geschriebenen.