Arno

liwāṭ im fiqh 01 — gesellschaftlicher Hintergrund

In Geschichte, Homosexualität, Islam, Männer, Muslime, Recht, Soziologie on 9.Januar 2010 at 15:14

Als die arabisch-islamischen Heere in weniger als 100 Jahren die Winter­regen­zone  des Altwelt­trocken­gürtels eroberten, führte dies nicht zu einem Bruch mit der etablierten hellenistischen Kultur. Arabien war schon hellenisiert – nicht nur die Vasallen­reiche im Norden und der Jemen, auch die Handels­­metropole Mekka und die (teils jüdische) Oase Medina; andererseits waren Syrien und der Irak semito­phon.

In den ersten prägenden Jahr­hunderten lernte der Islam viel von den alten Kulturen des frucht­baren Halb­monds, teils in über­­nehmender Aus­ein­ander­set­zung mit den pro­phe­tischen Schwester­­religionen, in dispu­tieren­­der Ab­gren­zung, teils durch die Trans­­fu­si­onen der Kon­ver­titen, die größten­­teils den Islam nicht als das ganz Andere (deshalb demütig zu Erlernende) betrachtet haben mögen, sondern als die bessere, erneuerte Version ihres alten Glaubens – weshalb sie völlig un­be­fangen „Lücken“ im neuen Ideologie­­gebäude mit bewährtem Bau­material füllten.

Die islamische Herrschaft brachte keine neue Wirtschafts­ordnung. Der Ost-West-Handel wurde durch den Wegfall der byzantinisch-sassanidi­schen Grenze erleichtert. In Stadt und Land änderten sich die Produk­tions­­verhältnisse kaum; von Sklaven bearbeitete Plantagen und staat­lich betriebene (oder lizenzierte) Manu­fak­turen blieben die Aus­nahme. Die in verschiedenen Regionen stark unter­­schied­liche Land­wirtschaft (Fluß­oasen, semi-aride Ebenen, Berg­terras­sen) und die aus­differenzierte Hand­werks­pro­duk­tion der Städte bildeten die wirtschaft­­liche Grundlage. Rechtliche Änderungen am Land­besitz änderten wohl eher die Form der Abgaben (Steuern, Rente, Pacht) als deren Höhe.

Auch an den patriarchalen Geschlechter­verhältnissen änderte sich wenig. Im öffent­lichen Leben blieben die Männer weitgehend unter sich. Ehen kamen in der Regel durch Verträge unter Männern zustande, dabei waren die Frauen meist jünger, weniger ge­bil­det und aus höchstens gleich­rangiger Familie: dank ihrer realen Unter­legen­heit war die offizielle Rang­­ordnung selten in Gefahr. Die Ehe diente der biologi­schen und mate­riel­len Erhaltung der Mannes­familie, der Schaffung und Festigung von Bündnissen sowie der Trieb­abfuhr. Selten war sie das affektive und libidinöse Zentrum des Mannes; Mutter, Söhne, Pferde, Sklavinnen, Knaben und Freunde waren ihm oft wichtiger.

Oral-genitale Kontakte und Selbstbefriedigung waren verpönt.  Geschätzt waren vagina­ler und analer Koitus. Analog zur rang­niedrigeren Frau war der penetrierte Mann, Jüng­ling oder Knabe – realiter und symbo­liter – unterlegen.  Während Penetra­toren mit ihren Eroberungen und Ver­­gewal­tigungen angeben konnten, war „es“ für Verführte und Vergewaltigte schändlich.

So wie in Nordeuropa die Kirchen alle außer­­ehelichen Geschlechts­­akte gleich stark verurteilen, gesell­schaft­­lich jedoch außer­­ehelicher Sex bei Frauen stärker geahndet wurde, so unter­scheiden die Menschen des Mittel­­meer­­raumes zwischen „erfolg­reichem“ Pene­trator und „schänd­lichem“ Pene­trierten, obwohl die abrahami­­ti­schen Religionen jede geschlecht­liche Handlung außer­halb von Ehe und Kon­­kubinat verbieten: gleich ob allein, mit Tieren, Kadavern oder Geistern, ob mit Personen des eigenen oder des anderen Geschlechts, gleich ob „aktiv“ oder „passiv“.

Im Zentrum dieser Studie steht der Begriff liwāṭ, der bisher durch­gehend mit „Homo­sexualität, Päderastie, Knabenliebe“ wieder­gegeben wird, und dem von Orienta­listen kaum Beachtung geschenkt wurde. Da auch die meisten Rechts­­hand­bücher seine Bedeu­tung als bekannt vor­aus­setzen und die Definitionen der Wörterbücher wenig hilf­reich sind, muß erst der Begriff geklärt werden. Anschließend gebe ich einen Überblick über die relevanten Stellen in Qurʾān und Sunna, sowie Meinungen von Juristen der ver­schie­denen Schulen, wobei ich meist Werke aus den drei Perioden auswerte, in die seit Joseph Schacht und Ch. Chehata شفيق شحاتة einzu­teilen üblich ist: die „präklassi­sche“ der For­mie­rung, die „klassische“ der Syste­matisie­rung, die „post­klassische“ der Kommen­tierung.

Ich untersuche also nicht eine Periode oder einen maḏhab exemplarisch – ein Ver­fahren, das Verfasser und Leser verleitet, die Ergebnisse zu genera­­lisieren –, sondern unter­­nehme eine Sichtung des Terrains. Nebenbei ergibt sich eine Auf­arbeitung des von Orienta­listen zum Thema Geschriebenen.

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